
Immer noch lese ich das Buch „Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“.
Die spannende Lektüre ist gleichzeitig eine Geschichtslektion über die Verläufe der Politik und der Auseinandersetzungen innerhalb der Arbeiterbewegung und der Kommunistischen Parteien in Deutschland und der Siwjetunion. Der Lesegewinn wird auch nicht getrübt durch die Erkenntnis, dass die Autorin – obwohl (oder vielleicht gerade, weil) DDR-Bürgerin – sich in der anti-kommunistischen und anti-stalinistischen Ideologie und dem begleitenden Jagon recht wohl fühlt.
Die Protagonistin ihres Buches, Hertha Gordon-Walcher, deren Ehemann Jacob Walcher und viele ihrer Freunde zählten zu den aus der KPD ausgeschlossenen beziehungsweise an den Rand gedrängten Genossen, die den ultralinken Kurs ablehnten, mit dem (bei tatkräftiger Unterstützung durch die Komintern) 1923 versucht wurde, in Deutschland eine Revolution anzuzetteln.
Im Gegensatz zu ihrer nachträglichen Biografin blieb Hertha Gordon-Walcher allerdings ihr Leben lang der sozialistischen Idee und der Kommunistischen Partei , in ihrem Fall also der SED, verbunden .
Solche Schilderungen und Beschreibungen, vor allem diejenigen, die aufgrund der zweifellos vorgekommen Auseinandersetzungen, Härten und Ungerechtigkeiten der sozialistischen und Arbeiterbewegung den Schluss ziehen, das Sozialismus und Arbeitermacht entweder ein utopisches Ideal bleiben müssten oder von vornherein zu verurteilen sei, weil eben diese besagten Härten und Ungerechtigkeiten auch vor kämen, werfen bei mir folgende Frage auf:
Wenn negative Begleiterscheinung bei der Umsetzung einer Gesellschaftsordnung (und deren politischer Ökonomie) ein Grund sind, diese Gesellschaftsordnung und politische Ökonomie selbst in die Tonne zu treten und für alle Zeiten zu verurteilen – warum gilt das einzig und allein für den Sozialismus?
Meines Wissens nach hat der Kapitalismus mit seiner Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei, Ausbeutung, Völkermord und millionenfacher Verelendung ein deutlich grösseres Sünderregister als die sozialistischen Versuche, die kapitalistische Ausbeuterordnung zu beenden.
Man hört aber niemals von den Fans dieser Ordnung, dass aufgrund der institutionellen Gewalttätigkeit, der Perversion, der Auswüchse, der Genozide, dass also aufgrund all der Massenschlächtereien, die dieses System hervorbringt, nun der ganze Kapitalismus abzulehnen sei.
Jeder Gulag-Insasse dagegen (egal aus welchen Gründen er dort gelandet ist), jedes Opfer irgendwelcher MfS-Schikanen, wird landauf landab seit Jahrzehnten gefeiert als definitiver Beleg für die Unmenschlichkeit und das ultimative Scheitern jedweder sozialistischen Gesellschaftsordnung .
Millionenfache Massenmorde durch die imperialistischen Mächte – Irak, Libyan, Afghanistan, Syrien und sonst wo auf der Welt – oder ein veritabler Genozid, der sich momentan vor den Augen der Weltöffentlichkeit in Gaza abspielt: all dies ist auf keinen Fall ein Grund, die beste, natürlichste und menschengerechteste Gesellschaftsordnung, die des freien Eigentums, auch nur infrage zu stellen. Die immanente Barbarei imperialistischer Weltordnung gilt immer als Betriebsunfall, als bedauerliche Einzelfälle, gelegentliche Auswüchse oder gleich als die Kosten der Freiheit, die nun mal – leider, leider, aber unvermeidlich – anfallen.