Geschichten, die das Leben schrieb: Nichts wird verschont von der Vergänglichkeit

„Obschon ein Regenbogen klar und unbewegt
am Firmament erscheint,
verschwindet er doch, ganz plötzlich
Obschon die Sommerblüten
in leuchtenden Farben blühen,
verwelken sie schnell, wenn die Jahreszeit wechselt
Nichts wird verschont von der Vergänglichkeit!“
(Yogini Mandarava*)

Mandarava war eine indische Prinzessin aus dem 8. Jahrhundert, die ihre Heimat verließ und auf ihr Geburtsrecht verzichtete, um den Dharma zu praktizieren. Sie wurde eine der beiden Hauptschülerinnen von Padmasambhava (Guru Rinpoche) und wurde schließlich zu einer Dakini der Weisheit, des Wissens und des Bewusstseins.

Einer der ältesten Freunde meiner Frau, zu dem sie immer Kontakt gehalten hatte (naja, eher er zu ihr; jedenfalls trafen sie sich und wir uns mehrmals im Jahr), konnte letztes Jahr mit Dreiundsechzig in Rente gehen. Er hatte einen wichtigen und gutbezahlten Job in der produzierenden Industrie und konnte genug Vorsorge treiben und Vermögen ansammeln, um entspannt seinem Ruhestand entgegenzublicken.

Als Hobbyfotograf mit künstlerischen Anspruch und als leidenschaftlicher Koch hatte er große Pläne. Zusammen mit seiner Frau wollte er ein Wohnmobil kaufen und Europa auf der Spur landschaftlicher Schönheit und kulinarischer Entdeckungen bereisen.

Vor fünf Wochen fiel seiner Frau auf, dass er sich beim Kofferpacken seltsam verhielt, die Sachen wahllos und ungeordnet in den Koffer schmiss und nicht zu wissen schien, was er da tat. Darauf angesprochen, reagierte er – ausgesprochen untypisch für ihn – extrem aggressiv, stieß sie fort und wirkte völlig durcheinander und ratlos.

Sie hatte den guten Sinn, ihn umgehend zu einer neurologischen Untersuchung zu schicken, bei der ein Hirntumor festgestellt wurde. Ohne Operation wäre seine Lebenserwartung äußerst gering, sagten ihnen die Ärzte.

Bei der OP ging dann scheinbar einiges schief – ob durch ärztliche Fehler oder einfach durch Pech vermag niemand zu sagen. Er erlitt einen Schlaganfall, kurz darauf noch einen, wodurch das Sprachzentrum im Gehirn so massiv beeinträchtigt wurde, dass er Sprache und Schluckreflex verlor.

Nach einem dritten Schlaganfall liegt er nun für den Rest seiner vermutlich nicht mehr lange währenden Lebenszeit weitgehend bewegungslos in einem Pflegebett und muss künstlich ernährt, gewaschen und gewendet werde.

Die irreversible Schädigung seines Gehirns bewirkt unter anderem, dass seine Erfahrung der Realität im ihn herum und ihn ihm selbst nicht übereinstimmt mit seiner früheren Wahrnehmung bzw. Person. Er scheint zu begreifen, dass er fast kommunikationsunfähig in einem Körper mit lädiertem Gehirn eingesperrt ist, reagiert (manchmal) auf Ansprache, lässt aber dabei erkennen, dass er auch „normale“ Fragen und Sätze inhaltlich nicht verstehen kann. Die Verbindung von Wahrnehmung, Sprache, Erkennen, Selbstempfindung und Orientierung in der Welt scheint an mehreren Stellen fundamental geschädigt und gestört zu sein.

Er gilt als „austherapiert“, d.h. die Mediziner sehen keine Möglichkeit einer Besserung oder gar Heilung. Demnächst wird er vom Krankenhaus in ein Hospiz verlegt.

*** Warum schreibe ich darüber so ausführlich? ***

Weil es jedem passieren kann. Und weil man sich zwar nicht auf solche Ereignisse, aber auf die dadurch notwendigen Entscheidungen einstellen kann und sollte.

Die Frau dieses Mannes hat Zeit ihres Lebens alles ihm überlassen, von der Verwaltung der Gelder über sämtliche „offiziellen“ Angelegenheiten bis hin zur Vorsorgeplanung. Die beiden sind finanziell bestens aufgestellt, aber eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht zählte nicht zu ihren Planungen.

Jetzt steht sie vor allen möglichen Entscheidungen, weiß nicht, wie sie reagieren soll, was die tatsächliche Wünsche ihres Mannes sind, ist überfordert usw.

Das Leben ist eine fragile und vorübergehende Sache. Macht eure Patientenverfügung und eure Vorsorgevollmacht! Wenn eine Situation ähnlich der oben geschilderten Eintritt, werdet ihr es bitter bereuen, wenn ihr keine gemacht habt. Dann bestimmen nämlich im Zweifel andere über euch als die, von denen ihr es wünschen würdet.

Patientenverfügung: https://www.verbraucherzentrale.de/patientenverfuegung-online

Vorsorgevollmacht: https://www.verbraucherzentrale.de/gesundheit-pflege/onlinevorsorgevollmacht-jetzt-kostenlos-erstellen-und-vorsorgen-76131

Geschichten die das Leben schrieb: Im Bardo hört dich keiner schreien

Die Psychologie des gesamten siebten Lebensjahrzehntes (und zwar umso stärker, je weiter es voranschreitet) ist geprägt vom Schwanken zwischen zwei mentalen Mustern, die eher komplementäre Pole sind als Gegensätze: 

Zum einen die Erkenntnis des unerbittlichen Verfalls von Körper und Geist, sowie das Hadern mit diesem progressiven Nachlassen all der Kräfte und Fähigkeiten, deren Besitz und Ausübung man bis hierher für selbstverständlich gehalten hatte.  

Zum anderen der Versuch, sich in das Unvermeidliche zu fügen und zu akzeptieren, dass von nun an alles nur noch weiter bergab geht.

Pausen von dieser gnadenlosen Abwärtsspirale gibt es kaum; Trost besteht einzig in der Einsicht, dass die Zeit dahin rast und bald, sehr bald, das Ende des irdischen Gastspiels erreicht ist. Und, in lichten Momenten, dass man vielleicht ein paar nützliche Dinge gemacht, einige Leute inspiriert und Menschen nicht ausgenutzt und ausgebeutet hat.

Der Zwischenzustand zwischen Geburt und Tod gleicht dem Tautropfen auf dem Grashalm bei Sonnenaufgang, oder den Wolken am windigen Himmel. Schnell naht die Zeit des Abschieds von allem, was man kennt. 

„Zur Zeit, da Körper und Geist sich trennen, geht dir die wahre Erscheinung des Seins-an-sich als subtil und klar, hell-strahlend, von Natur aus leuchtend und doch furchterregend auf, gleich dem Glitzern einer flimmernden Fata Morgana über einer hochsommerlichen Ebene.“

Darauf sich vorzubereiten, ist nicht verkehrt.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Wie ich einmal Hilfspfarrer wurde

Morgens bei Dienstbeginn informiert mich die
Wohnbereichsleitung, dass Frau P., die seit ca. zwei Wochen immer mehr abgebaut
hat, jetzt wohl im Sterben läge. Der Atem gehe ganz flach, sie wäre nicht mehr
ansprechbar – kurzum: es wäre schön, wenn ich mir die Zeit nehmen könnte, um
bei ihr zu sein. Die Töchter von Frau P. seien schon informiert und würden
demnächst kommen.

Die Kollegin selber hat auch für Sterbende höchstens mal 5
Minuten zwischendurch Zeit, da sie feiertagsbedingt mit zwei FSJlerinnen 20
Leute versorgen muss.

Ich selber habe erst ab 10:00 „Programm“, so dass ich mich
ins Zimmer von Frau P. begeben kann. Auf den ersten Blick ist erkennbar, dass ihr
Geist und ihr Körper nur noch an einem dünnen Faden miteinander verbunden sind
und dass dieser Mensch nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat. Frau P. atmet
kaum noch, ihr Kopf ist leicht seitwärts gedreht, der Blick ist auf einen imaginären
Punkt an der weißen Zimmerwand gerichtet.

Ich setze mich zu ihr, nehme ihre Hand und bleibe erst mal
eine Weile still neben ihr sitzen. Frau P. ist knapp 80 Jahre alt und seit etwa
4 Jahren diagnostiziert dement. Seit ich sie kenne, beobachte ich ihre fortschreitende
Desorientierung und zunehmende körperliche Schwächung. Sie wirkt auf mich wie
jemand, dessen innere Wirklichkeit, dessen Selbstwahrnehmung und Erinnerungsvermögen
einstmals ein Kontinent war, jetzt aber nur noch aus lauter Inseln besteht, die
von einem Ozean des Vergessens immer mehr überspült werden.

Dabei ist Frau P. in aller Desorientiertheit und inneren Verlorenheit
stets bemüht, „Haltung“ zu bewahren und fast immer freundlich zu allen. Sie ist
mir ans Herz gewachsen, weil sie manchmal auf rührende Weise resolut sein kann;
wenn sie zum Beispiel mal wieder vergessen hat, was der Essvorgang bedeutet und
wie man sich Nahrung zuführt, hört man beim Versuch, ihr den Gebrauch eines
Löffels nahezulegen, schon mal ein entschiedenes „Also, das ist doch totaler
Unsinn jetzt!!“
, so als ob sie einem unverständigem Kinde streng, aber nicht
unfreundlich eine Flause austreiben muss.

Nach einer Weile folge ich einem Impuls und beuge mich über
Frau P.s Bett, so dass ich Augenkontakt mit ihr aufnehmen kann. Ich habe das
Gefühl, dass sie in diesen letzten Momenten ihres Lebens Zuspruch braucht, dass
sie in dem Alleinsein der Sterbestunde dennoch nicht allein ist. Ich spreche
sie mit ihrem Vornamen an und sage ihr sinngemäß: „Sie können nicht mehr lange
in diesem Körper bleiben… aber Sie brauchen keine Angst zu haben, ihn zu
verlassen – es ist alles in Ordnung. Alles, was Ihnen jetzt passiert, ist
völlig natürlich. Sie gehen dahin zurück, wo alles herkommt und in dem alles
aufgehoben ist…“.

Frau P.s Augen wenden sich mir zu, sie wirkt wach, aufnahmebereit
und ansprechbar. Für weitere Reaktion fehlen ihr die physischen und psychischen
Kräfte. Ich bleibe weiter bei ihr sitzen; nach ca. 20 Minuten erscheinen ihre
beiden Töchter.

Eine gute halbe Stunde später stirbt Frau P. im Beisein
ihrer Töchter. Auf ihrem Gesicht liegt ein schöner und friedlicher Ausdruck.

Das Prozedere des Heimes sieht für Todesfälle vor, dass noch
am selben Tag ein sogenanntes Abschiedsritual für Angehörige, Freunde, Bekannte
sowie für Pfleger und Betreuer stattfindet. Da der Pfarrer der auf demselben
Gelände liegenden Kirchengemeinde meistens nicht abkömmlich ist, wird dieses
Ritual von Mitarbeitern des Hauses durchgeführt, die sich das zutrauen und eine
entsprechende Schulung erfahren haben.

Heute trifft es mich, bzw. die diensthabende Pflegekraft ist
froh, dass ich die Sache übernehme, da sie selber sich mit dem Thema unsicher
fühlt und obendrein jede Menge zu tun hat im Wohnbereich, auf dem das Leben der
restlichen BewohnerInnen ja weiter geht.

Ich erfahre, dass Frau P. eine gläubige Katholikin war.
Damit ist schon mal entschieden, dass das Abschiedsritual in seiner religiösen
Variante ausgeführt wird. Ein paar Stunden später haben sich Angehörige und Bekannte
versammelt, ein paar Pflege- und Betreuungskräfte kommen hinzu und ich beginne
mit der Zeremonie.

Wir beten zusammen den Psalm 23 („…Und ob ich schon wanderte
im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken
und Stab trösten mich…“),
das Vaterunser, zum Abschluss spreche ich einen  Segen und zwischendrin erinnern wir uns
gemeinsam an Begebenheiten mit Frau P. Dabei kommen lustige Ereignisse zutage und
die Atmosphäre von Trauer und Verlust wird auf schöne und fröhliche Weise von
Lachen und Heiterkeit ergänzt.

Nun halte ich von organisierter Religion, vor allem aber von
ihrer Ideologie von Angst, Schrecken, Schuld und Furcht, weniger als gar
nichts. Allerdings beobachte ich zwei Dinge bei diesem Prozedere:

Erstens die Versuchung, die schockierten, betroffenen und
dadurch extrem beeinflussbaren Trauernden mit Floskeln und leeren Sprüchen zu „trösten“
und dabei die eigene Selbstwichtigkeit zu füttern; eine Falle, in die
sicherlich zahlreiche religiöse Amtsinhaber laufen (wollen).

Zweitens die Wirksamkeit der Rituale – auch der kirchlichen –
bei der unmittelbaren Bewältigung eines derart einschneidenden Lebensereignisse
wie dem Sterben und dem Tod eines nahen Menschen. Die Gebete, das Ambiente, der
ritualisierte Ablauf, all das setzt dem Ereignis einen für die Psyche Orientierung
gebenden Rahmen und bettet es ein in etwas Umfassenderes, Größeres als das einzelne
individuelle Leben und Sterben. Und das scheint der Mensch zu brauchen.

Witziges Nebendetail: aus unerfindlichen Gründen habe ich
heute eine schwarze Hose und ein dunkel-anthrazitfarbenes Edelhemd angezogen.
Eine Kollegin hinterher zu mir: „Das hast
du richtig gut gemacht, du sahst ja schon aus wie ein Pfarrer!“

In Ewigkeit, Amen!