Geschichten aus dem Pflegeheim: Wie ich einmal Hilfspfarrer wurde

Morgens bei Dienstbeginn informiert mich die
Wohnbereichsleitung, dass Frau P., die seit ca. zwei Wochen immer mehr abgebaut
hat, jetzt wohl im Sterben läge. Der Atem gehe ganz flach, sie wäre nicht mehr
ansprechbar – kurzum: es wäre schön, wenn ich mir die Zeit nehmen könnte, um
bei ihr zu sein. Die Töchter von Frau P. seien schon informiert und würden
demnächst kommen.

Die Kollegin selber hat auch für Sterbende höchstens mal 5
Minuten zwischendurch Zeit, da sie feiertagsbedingt mit zwei FSJlerinnen 20
Leute versorgen muss.

Ich selber habe erst ab 10:00 „Programm“, so dass ich mich
ins Zimmer von Frau P. begeben kann. Auf den ersten Blick ist erkennbar, dass ihr
Geist und ihr Körper nur noch an einem dünnen Faden miteinander verbunden sind
und dass dieser Mensch nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat. Frau P. atmet
kaum noch, ihr Kopf ist leicht seitwärts gedreht, der Blick ist auf einen imaginären
Punkt an der weißen Zimmerwand gerichtet.

Ich setze mich zu ihr, nehme ihre Hand und bleibe erst mal
eine Weile still neben ihr sitzen. Frau P. ist knapp 80 Jahre alt und seit etwa
4 Jahren diagnostiziert dement. Seit ich sie kenne, beobachte ich ihre fortschreitende
Desorientierung und zunehmende körperliche Schwächung. Sie wirkt auf mich wie
jemand, dessen innere Wirklichkeit, dessen Selbstwahrnehmung und Erinnerungsvermögen
einstmals ein Kontinent war, jetzt aber nur noch aus lauter Inseln besteht, die
von einem Ozean des Vergessens immer mehr überspült werden.

Dabei ist Frau P. in aller Desorientiertheit und inneren Verlorenheit
stets bemüht, „Haltung“ zu bewahren und fast immer freundlich zu allen. Sie ist
mir ans Herz gewachsen, weil sie manchmal auf rührende Weise resolut sein kann;
wenn sie zum Beispiel mal wieder vergessen hat, was der Essvorgang bedeutet und
wie man sich Nahrung zuführt, hört man beim Versuch, ihr den Gebrauch eines
Löffels nahezulegen, schon mal ein entschiedenes „Also, das ist doch totaler
Unsinn jetzt!!“
, so als ob sie einem unverständigem Kinde streng, aber nicht
unfreundlich eine Flause austreiben muss.

Nach einer Weile folge ich einem Impuls und beuge mich über
Frau P.s Bett, so dass ich Augenkontakt mit ihr aufnehmen kann. Ich habe das
Gefühl, dass sie in diesen letzten Momenten ihres Lebens Zuspruch braucht, dass
sie in dem Alleinsein der Sterbestunde dennoch nicht allein ist. Ich spreche
sie mit ihrem Vornamen an und sage ihr sinngemäß: „Sie können nicht mehr lange
in diesem Körper bleiben… aber Sie brauchen keine Angst zu haben, ihn zu
verlassen – es ist alles in Ordnung. Alles, was Ihnen jetzt passiert, ist
völlig natürlich. Sie gehen dahin zurück, wo alles herkommt und in dem alles
aufgehoben ist…“.

Frau P.s Augen wenden sich mir zu, sie wirkt wach, aufnahmebereit
und ansprechbar. Für weitere Reaktion fehlen ihr die physischen und psychischen
Kräfte. Ich bleibe weiter bei ihr sitzen; nach ca. 20 Minuten erscheinen ihre
beiden Töchter.

Eine gute halbe Stunde später stirbt Frau P. im Beisein
ihrer Töchter. Auf ihrem Gesicht liegt ein schöner und friedlicher Ausdruck.

Das Prozedere des Heimes sieht für Todesfälle vor, dass noch
am selben Tag ein sogenanntes Abschiedsritual für Angehörige, Freunde, Bekannte
sowie für Pfleger und Betreuer stattfindet. Da der Pfarrer der auf demselben
Gelände liegenden Kirchengemeinde meistens nicht abkömmlich ist, wird dieses
Ritual von Mitarbeitern des Hauses durchgeführt, die sich das zutrauen und eine
entsprechende Schulung erfahren haben.

Heute trifft es mich, bzw. die diensthabende Pflegekraft ist
froh, dass ich die Sache übernehme, da sie selber sich mit dem Thema unsicher
fühlt und obendrein jede Menge zu tun hat im Wohnbereich, auf dem das Leben der
restlichen BewohnerInnen ja weiter geht.

Ich erfahre, dass Frau P. eine gläubige Katholikin war.
Damit ist schon mal entschieden, dass das Abschiedsritual in seiner religiösen
Variante ausgeführt wird. Ein paar Stunden später haben sich Angehörige und Bekannte
versammelt, ein paar Pflege- und Betreuungskräfte kommen hinzu und ich beginne
mit der Zeremonie.

Wir beten zusammen den Psalm 23 („…Und ob ich schon wanderte
im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken
und Stab trösten mich…“),
das Vaterunser, zum Abschluss spreche ich einen  Segen und zwischendrin erinnern wir uns
gemeinsam an Begebenheiten mit Frau P. Dabei kommen lustige Ereignisse zutage und
die Atmosphäre von Trauer und Verlust wird auf schöne und fröhliche Weise von
Lachen und Heiterkeit ergänzt.

Nun halte ich von organisierter Religion, vor allem aber von
ihrer Ideologie von Angst, Schrecken, Schuld und Furcht, weniger als gar
nichts. Allerdings beobachte ich zwei Dinge bei diesem Prozedere:

Erstens die Versuchung, die schockierten, betroffenen und
dadurch extrem beeinflussbaren Trauernden mit Floskeln und leeren Sprüchen zu „trösten“
und dabei die eigene Selbstwichtigkeit zu füttern; eine Falle, in die
sicherlich zahlreiche religiöse Amtsinhaber laufen (wollen).

Zweitens die Wirksamkeit der Rituale – auch der kirchlichen –
bei der unmittelbaren Bewältigung eines derart einschneidenden Lebensereignisse
wie dem Sterben und dem Tod eines nahen Menschen. Die Gebete, das Ambiente, der
ritualisierte Ablauf, all das setzt dem Ereignis einen für die Psyche Orientierung
gebenden Rahmen und bettet es ein in etwas Umfassenderes, Größeres als das einzelne
individuelle Leben und Sterben. Und das scheint der Mensch zu brauchen.

Witziges Nebendetail: aus unerfindlichen Gründen habe ich
heute eine schwarze Hose und ein dunkel-anthrazitfarbenes Edelhemd angezogen.
Eine Kollegin hinterher zu mir: „Das hast
du richtig gut gemacht, du sahst ja schon aus wie ein Pfarrer!“

In Ewigkeit, Amen!