Traum und Wirklichkeit: Waldkommunismus

Jedes Mal, wenn ich aus meiner Hütte trat, wollten die Waldtiere über Kommunismus reden. Nachdem ich mir das eine Weile angeschaut hatte, entschloss ich mich, sie mit einschlägiger Literatur und ein paar handfesten Tipps zu unterstützen, was sie dankbar annahmen und ausgiebig nutzten. Bald schon hub im Wald ein munteres Lernen, Studieren und Diskutieren an, und immer mehr Tierarten schlossen sich den revolutionären Lese- und Debattenzirkeln an.

Am Ende des Sommers, als sich die Blätter schon verfärbten, riefen die Eichhörnchen – die aus welchen Gründen auch immer federführend bei der Exegese der aufrührerischen Schriften waren – dazu auf, die Macht im Wald in die eigenen Pfoten und Krallen zu nehmen. Der Anführer, den sie „Genosse Haselnuss“ nannten, erklomm einen Felsbrocken und hielt eine flammende Ansprache an die versammelten Waldtiere, unter denen sich zu meinem Erstaunen auch eine Delegation von scheinbar mit den Eichhörnchen verwandter Kängurus befand.

“Genosse Haselnuss” malte das Bild einer goldenen, immer mit ausreichend Futter und Schutz vor Unwetter versehenen Waldgesellschaft, zu der jedes Tier nach seinen Fähigkeiten betragen würde. Unter dem Symbol des Tannenzapfens, dessen zahlreiche Schuppen Seit‘ an Seit’ zusammen ein Ganzes bilden, würde das Leben der Waldtiere, versprach der Genosse Haselnuss, zukünftig ein einziges Fest und eitel Heiterkeit sein.

Die Aussicht auf gerechte Verteilung der Wintervorräte schien die anwesenden Tiere anzusprechen und zu motivieren; gemeinsam beschloß man die Ausrufung der „Demokratischen Tierrepublik Wald“, kurz DTRW. Schnell fanden sich Aktivisten und Unterstützer der soeben ausgerufenen Tierrepublik: 

Der Bär brummte etwas von „Für die Verteidigung der jungen Republik gegen ihre Feinde sorgen“ und versprach, all seine Kraft für den Schutz des künftigen Tierparadieses einzusetzen. Ehe noch der stürmische Applaus, der seinen Worten folgte, abebben konnte, meldeten sich die Waldameisen, die in Bataillonstärke aufmarschiert waren, und schworen vieltausendmal den Eid auf die DTRW. Sie bekräftigten ihre feste Absicht, jedwede konterrevolutionären Aktivitäten zu infiltrieren und zum Einsturz zu bringen.  

Nun ergriff wieder Genosse Haselnuss das Wort. „Wohl gesprochen, liebe Mittiere!“, rief er, „Natürlich müssen wir unsere Republik verteidigen. Aber unser Hauptaugenmerk muss jetzt, wo der Winter naht, auf der zuverlässigen Versorgung mit Nahrung liegen. Deswegen ernenne ich den Fuchs zum Futterkommissar und Verantwortlichen für unseren ersten Sechsmonatsplan!“

Beifälliges Gemurmel machte die Runde; jeder wußte, dass dem Fuchs in punkto Schlauheit niemand das Wasser reichen konnte. Eine Armada von Mäusekundschaftern machte sich auf, auf dem Rücken der Waldeulen die guten Nachrichten in alle Winkel des Waldes zu tragen und alle Tiere zur Unterstützung der Tierrepublik aufzurufen.

Nachdem so alle künftigen Angelegenheit der neuen Republik aufs Zufriedenstellendste geordnet waren, verloren die Waldtiere schnell das Interesse an langwierigen Debatten und verlangten, dass erstmal ein sieben Tage und Nächte langes Fest organisiert werden müsse, um die umwälzenden Ereignisse des heutigen Tages zu feiern.

Welche das waren, hatten sie weitgehend vergessen, denn Tiere haben ein kurzes Gedächtnis – bis auf den Elefanten, aber der lebte ja nicht im Wald. Die Tiere waren müde von all den Reden und den Ernennungen der zahlreichen Funktionsträger und Repräsentanten ihrer Republik. Darum hatte niemand mehr Lust, Verantwortung für die Organisation des großen siebentägigen Festes zu übernehmen, das dadurch ins Wasser fiel.

Inzwischen war es Abend geworden, bis auf die Nachttiere waren alle erschöpft und müde, und schließlich zerstreute sich die ganze Versammlung in alle vier Waldrichtungen. Am nächsten Tag war alles komplett vergessen, jeder machte sich auf seine Weise auf die Futtersuche und dachte nicht daran, irgendeinen Plan zur Bevorratung und Verteilung für alle einzuhalten. Auch ich erwachte leicht verkatert in meiner Hütte und war mal wieder nicht sicher, was Traum und was Realität war, oder wo die Grenzen zwischen beiden verliefen. 

Der geheimnisvolle Pilz und die verschwundenen jungen Leute

In den abgelegenen Tälern des Schwarzwaldes, so erzählt man sich, wuchs zu Zeiten eine besondere Art Fliegenpilze: eine, die bei Verzehr der richtigen Menge die Gabe verlieh, die Sprache der Tiere zu verstehen. Aß man allerdings mehr als die richtige Menge, so konnte es einem widerfahren, dass man in ein Tier verwandelt wurde.

Darum sprachen Alte und Weise von diesem Pilz nur hinter vorgehaltener Hand, und die verborgenen Fundstellen waren nur Eingeweihten bekannt. So manch vorwitziger junge Bauer, so manche abenteuerlustige Magd hatten sich auf der Suche nach dem Pilz, getrieben vom Verlangen nach dem Außergewöhnlichen, auf den Weg in die Tiefen des Schwarzwaldes gemacht und waren niemals zurückgekehrt.

Ihre Eltern, ihre Freunde, die Dorfgemeinschaft – alle fragten sich beim gelegentlichen Anblick eines Fuchses, eines Bären, einer Eule oder eines Hasen, ob das nicht ihre lieben Vermißten sein könnten und versuchten mit allerlei Mitteln, die Tiere anzulocken und einzufangen. Doch selbst, wenn ihnen das gelang, konnten sie sich nicht mit ihnen verständigen, denn wenn die Verschollenen auch die Sprache der Tiere verstehen mochten – die der Menschen war ihnen für immer abhanden gekommen.