Geschichten aus dem Pflegeheim: Ziviler Orden für die Küche

Bunte Runde am zweiten Weihnachtstag im Wohnbereich. Wie immer entsteht aus Zurufen und Anmerkungen der Anwesenden ein Bild, dazu
entspinnt sich eine Geschichte. Ebenfalls wie immer kommen wir dabei vom Hölzchen aufs Stöckchen und landen schließlich über „Mal´ mal ´ne Eiche!“ beim Eichenlaub und dessen Verwendung in militärischen Rangabzeichen, Orden usw.


Ich schlage eine zivile Umwidmung vor, die nach einhelliger
Ansicht der BewohnerInnen an die Küche gehen muss. Im Gegensatz zu sehr vielen
anderen Einrichtungen, die aus Kostengründen lieblos und billig
zusammengepantschtes Großküchenfutter anbieten, leistet sich mein diakonischer
Arbeitgeber nämlich eine eigene Küche mit den nötigen Fach- und Servicekräften.
Das wird von den Heimbewohnern sehr geschätzt und bis auf ganz seltene
Ausnahmen sind alles des Lobes voll für die tägliche Verpflegung.

Es wird beschlossen, dass das so entstandene Bild der Küche
übergeben werden muss. „Heimlich nachts aufhängen!“, schlägt Herr R. vor. Aber
da er das nicht selber übernehmen will und wir der Meinung sind, dass man sich
mit Lob nicht verstecken muss, überreiche ich die Auszeichnung anschließend –
im Namen der BewohnerInnen des Wohnbereiches – dem Küchenchef.
Strahlende Augen und breites Grinsen bei ihm und seiner Truppe, die sich wirklich täglich den
Arsch aufreißen, um für die Leute lecker Essen hinzustellen.

Geschichten aus dem Pflegeheim: “Wo bin ich hier?”

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„Besondere Zeitungsschau“ am ersten Weihnachtsfeiertag:
Frau
P., die das Plakat betrachtet, fragt mich: „Ist das was für alle oder ist das
sowas Intellektuelles?“

Frau P. ist dement, aber in ihren klareren Momenten merkt
man, dass sie eine gewisse Bildung genossen hat. Ich antworte ihr nach einem
kurzen Zögern: „Beides, Frau P.! Bei mir ist es immer für alle, aber auch die
Intellektuellen kommen auf ihre Kosten!“
Die Antwort stellt sie zufrieden, denn
sie entgegnet: „Na gut. Dann werd´ ich mir das mal anhören.“

Die Runde verläuft gut und die Anwesenden 14 oder 15
BewohnerInnen hören fast alle mit Aufmerksamkeit und Interesse zu. Viele tragen
mit eigene Wortmeldungen zum Thema (Ein Artikel namens „Wie wir 2037 leben
werden“
) bei.

Nach Abschluss der Runde bringe ich die BewohnerInnen auf
ihre Wohnbereiche zurück. In WB 1 ruft mich Frau M. zu sich: „Komm mal her!“.
Frau M. ist die bibelfeste Katholikin, die vielfach am Tag das Vaterunser vor
sich hinmurmelt. Heute scheint sie etwas verloren und verwirrt, aber auch
geistig reger als sonst. Sie hatte heute Weihnachtsbesuch einiger Verwandter.

„Was mache ich eigentlich hier?“, fragt sie mich. „Wieso bin
ich hierher gebracht worden?“

Sie wirkt, als sei sie gerade aus einem Traum aufgewacht und müsse sich erst mal
orientieren. Sie sitzt angespannt und nach vorne gebeugt in ihrem
Rollstuhl Ich schaue sie mir eine kurze Weile an, versuche, ihre Gefühlslage zu
erfassen und erkläre ihr, dass sie im Heim ist: „Frau M., sie sind hier, weil
Ihnen hier geholfen wird mit den Dingen, die Sie alleine nicht mehr hinkriegen.
Außerdem sind sie hier nicht alleine…“

Sie schaut mich aufmerksam und mit großen Augen an. Die
Erklärung sinkt in sie ein. Ich hake nach: „Können Sie sich noch erinnern, wie
Sie zuletzt in Ihrer eigene  Wohnung
waren?“

Frau M. denkt  nach. „Hm…
das ist lange her…“
Sie hat erkennbar keinen Zugang zu den
Erinnerungsdatenbanken in ihrem Gedächtnis. Ich sage ihr: „Sie sitzen ja im
Rollstuhl und schon dadurch ist es schwierig, in der eigenen Wohnung
zurechtzukommen…“

Das leuchtet ihr scheinbar ein; über ihr Gesicht huscht ein Ausdruck von
Erkenntnis und gleichzeitiger Entspannung und sie lehnt sich entspannt zurück.
Nach ein paar Sekunden weiteren Nachdenkens schaut sie mich an und sagt: „Danke!“

Geschichten aus dem Pflegeheim: “Los, mach weiter!”

Bei der Weihnachtsfeier des Wohnbereiches sitzt die 90-jährige Frau M. mit einer weiteren Bewohnerin an einem Einzeltisch. Offensichtlich haben die beiden keine Angehörigen oder Freunde zu Besuch bei dieser jährlichen Begegnungsfeier.

Frau M. ist dement, hat allerdings mitunter überraschend klare Momente. Sie nimmt kaum an Gemeinschaftsaktivitäten teil und verbringt die meiste Zeit im Rollstuhl im Speisesaal des Wohnbereiches, wo sie gerne und häufig das Vaterunser aufsagt.

Heute ist sie allerdings augenscheinlich ziemlich fit und genießt das weihnachtliche Programm des Nachmittags. Nur vom besonderen (und nach einhelliger Meinung der BewohnerInnnen und Besucher spitzenmäßig köstlichen) Essen scheint Frau M. nicht viel abgekriegt zu haben.

Ich frage sie, ob sie schon vom Hauptmenü abbekommen hat. „ Nee, sie hat nur etwas Gemüse bekommen“, wirft ihre Tischnachbarin ein.

„Ich brauch‘ Hilfe beim Essen!“, sagt Frau M. erklärend.

Ich vergewissere mich, dass Frau M. ihre Zahnprothese im Mund hat. Dann bringe ich ihr eine (kleine) Portion Wildragout mit Kartoffelklößen und Rotkohl, die ich ihr klein schneide und anreiche.

Frau M. ißt mit gutem Appetit; obwohl sie noch kaut, fordert sie mich nach jedem Bissen auf: „Mach weiter!“ oder: „Los, weiter!“

Es schmeckt ihr richtig gut, auch wenn sie mit dem Fleisch so ihre Probleme hat. Das, was sie nicht gekaut kriegt, befördert sie mit der Zunge wieder nach draußen, wo ich es gekonnt mit einer Serviette von ihrer Mundpartie absammle. Mitfühlend bemerke ich: „Gar nicht so einfach mit dem Fleisch, Frau M., oder?“

„Ja, das lässt du jetzt mal weg!“, erhalte ich zur Antwort, und gleich darauf: „Und jetzt mach weiter!“

Die restlichen Knödel samt Rotkohl sind im Nu weggeputzt und Frau M. hat nicht nur deutlich mehr als sonst zu sich genommen, sondern wirkt auch extrem zufrieden. „Vielen Dank!“, sagt sie zu mir, und wirkt in dem Moment überhaupt nicht dement.

Ich bringe ihr noch den Nachtisch (Mousse au Chocolat und Vanille-Schaumcreme), der für sie einfacher zu handhaben ist und den sie daher selber löffelt. Sie ißt eine Riesenschale fast leer. Mit den letzten Reste aus der Schale tut sie sich jedoch wieder schwer und bittet mich erneut um Hilfe.

Ich tue ihr den Gefallen, reiche ihr den Rest an und wische ihr die erweiterte Mundpartie ab, auf der ein beträchtlicher Teil des Nachtischs gelandet ist.

All das lässt sie mit einer Mischung aus Anmut und Gelassenheit mit sich geschehen, beinahe wie eine hochgestellte Persönlichkeit edlen Geblüts, die es gewohnt ist, das Essen serviert und gereicht zu bekommen.

Zum Schluß schaut sie mich mit klarem Blick an, bedankt sich nochmals und ich wundere mich aufs Neue über diese seltsame Gehirnveränderung namens Demenz, die von manchen Experten nicht als Krankheit bezeichnet wird.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Endstation Altersheim

Wohnbereichsübergreifende Zeitungsrunde mit ca. 12 oder 14 BewohnerInnen. Die Meldung, dass ein israelischer Forscher die These aufstellt, Menschen könnten durch
Veränderungen der Ernährung, gentechnischen Eingriffen und medikamentöser Behandlung

bis zu 140 Jahre alt werden, löst lebhafte und ehrliche Diskussion aus.

Frau N., Anfang Neunzig, wirft ein: “Wozu denn? Damit man noch länger im Pflegeheim lebt? Ich hab mich jetzt an das Leben hier gewöhnt, aber glauben Sie mir, ich wollte oft genug Schluß machen, besonders anfangs, als ich herkam.”

Herr T., Ende Siebzig: “Im Pflegeheim zu landen ist das Ende. Man verliert seine Wohnung, und damit sein ganzes Leben. Alle Erinnerungen, der Ort, an dem man die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat, Kinder großgezogen hat – alles weg.”

“Wenn man auf die Hilfe von anderen angewiesen ist, verliert man seine Freiheit”, meldet sich die 75-jährige Frau W, “Meinen Sie, mir macht das Spaß, für jeden Toilettengang klingeln zu müssen? Was denken Sie, wie oft ich mich schon gefragt habe, was das für ein Leben ist und warum ich das ertragen muss. Das ist das Entwürdigendste überhaupt, wenn man sich selber nicht mehr helfen kann bei den einfachsten und intimsten Dingen.”

Ich frage in die Runde, ob die anderen das auch so sehen, und erhalte einhellige Zustimmung zur Antwort. Nach und nach reden fast alle über ihre Erfahrungen und Gefühle im Zusammenhang mit dem Verlust der Selbständigkeit, der Selbstbestimmung, der körperlichen Funktionsfähigkeit – vor allem aber über den Verlust der eigenen vier Wände und der Reduzierung des Lebensumfeldes auf ein Zimmer, das jederzeit von Dritten betreten werden kann und bei dem man sich oft genug Bad und Toilette mit einer weiteren Person teilen muss. Mehrfach höre ich Sätze über das Empfinden von Sinnlosigkeit, Depressionen, Selbstmordgedanken, inneren Rückzug bis hin zum Sich-Aufgeben und auf den Tod warten.

Offensichtlich ist es allen ein Bedürfnis, einmal Klartext zu sprechen über das grundlegende Gefühl von Verlust von Freiheit und Würde, Einschränkung und Entmündigung. Unter dem alltäglichen Sich-Arrangieren mit den Gegebenheiten und der “Besser als gar nichts”-Motivation fürs Mitmachen bei allen möglichen Angeboten und Aktivitäten im Heim bestimmt dies scheinbar die Erfahrung der BewohnerInnen.

Ich überlege, ob der innnere und äußere Raum für das Zulassen, Aussprechen und Anerkennen dieser Gefühle – idealerweise in einem professionellen psychologischen Rahmen –
nicht

eigentlich in jedes Alten- und Pflegeheim gehört. So wie die Dinge liegen, ist das Arbeiten oder der Umgang mit den teilweise traumatisierenden Erfahrungen Glückssache bzw. abhängig von der individuellen Befähigung und der Empathie der Pflege- und Betreuungskräfte.

Geschichten aus dem Pflegeheim: Verliebt

Die 103-jährige Frau S. strahlt mich
an, als ich mit dem Mittagessen zu ihr ins Zimmer komme und frage “Und,
Frau S., möchten Sie was zu essen?”

“Wenn Sie kommen, hab ich immer Hunger!”
Ich betrachte mir ihr püriertes Essen und versuche herauszufinden, um
was es sich dabei ursprünglich handelte. “Hm, also, Frau S., ich glaube,
heute gibt es Kartoffelbrei mit Brokkoli… jedenfalls Gemüse… und
… tja, könnte Frikadelle sein. Oder Roulade.”

“Ach, egal! Immer rein damit! Ich bin ein guter Esser!”
Frau S. isst heute wirklich mit Appetit und Lust und hat im Nu die ganze Portion aufgegessen, einen ganzen Teller voll.
Es ist eher selten, dass bettlägerige Heimbewohner, die nicht alleine
essen können, mit Appetit und vor allem in solcher Geschwindigkeit
essen. Außerdem essen Hochbetagte in der Regel sehr wenig.
Als ich
das anerkennend erwähne und meinem Gegenüber sage, wie klasse ich finde,
dass sie trotz ihres Alters so guten Appetit hat, antwortet sie:
“Ja,
ich bin 74 Jahre alt!”

Das ist nicht das erste Mal, dass ich diese
Zahl von ihr genannt kriege. Ich mache einen vorsichtigen Versuch, ihr
wahres Alter zu erwähnen:
“Frau S., wenn ich ich Ihnen sage, wie alt sie wirklich sind, würden Sie mir das nicht glauben! Sie sind 103 Jahre alt!”
“Nein, ich bin 74”, antwortet Frau S. wie aus der Pistole geschossen
und ohne jede Spur von Zweifel. Es ist klar, dass dies für ihr inneres
Empfinden ihr Alter IST; aus irgendeinem Grund hat ihr Geist dieses
Alter als permanenten Jetzt-Zustand gespeichert.
Zeit, zurückzurudern: ich versuche es mit einem “Hm… achso, ja, vielleicht hab ich da was durcheinandergebracht..”
“Da haben Sie ganz sicher was durcheinandergebracht!”, klärt sie mich auf und streichelt milde gestimmt meine Hand.
Plötzlich strahlt sie mich wieder an: “Und wissen Sie, warum ich so gut esse? Ich bin verliebt!!”
Ich ahne schon, was kommt, frage aber trotzdem: “In wen denn?”
“In Sie!” antwortet sie und schenkt mir ihr herzlichstes Lächeln.
Situation gerettet, und ich habe eine Verehrerin, deren gefühltes Alter gar nicht mal so weit von meinem entfernt ist…

Geschichten aus dem Pflegeheim: Von Ost nach West

Pausenschwätzchen mit Kollegin G.,
die als einzige außer mir  von Ost- nach Westdeutschland gekommen ist
(und im Gegensatz zu mir gelernte DDR-Bürgerin ist).
“Na, hast du dich schon eingelebt in NRW?” fragt sie mich.
Ich so: “Ach ja, geht so..” und erwähne, dass mir die Arbeitsatmosphäre
im Osten besser gefallen hat. Dort war es meinem Gefühl nach
kollegialer, menschlicher und kollektiver in der Zusammenarbeit, es
herrschte einfach ein anderes zwischenmenschliches Klima unter den KollegInnen.
Ich bin noch nicht halb fertig mit meinem Satz, da kriegt sie schon den
“Ja, sag ich doch, du sprichst aus, was ich auch meine”-Blick.
Dann holt sie aus:
“Ich bin jetzt sechs Jahre hier. In der Zeit hab ich eins gelernt:
jeder ist sich hier selbst der nächste. Und mein Vertrauen in die
Menschen hab ich komplett verloren. Jeder denkt hier nur an sich,
erzählt überall, wie toll er ist und weiss überhaupt nicht, was ein
Kollektiv ist. Deswegen müssen sie das ja auch "Team” nennen.“

Ich bin ganz Ohr. Als nächstes erzählt sie mir, was ich oft im Osten gehört habe:
"Wir haben ja früher StaBü (Staatsbürgerkunde) in der Schule gehabt.
War ja viel Propaganda, aber im Wesentlichen, das ist mir jetzt klar,
hat das alles gestimmt.”

In der Hoffnung auf weitere kapitalismuskritische Suaden nicke ich zustimmend.
“Wir haben drüben zusammengehalten gegen die Obrigkeit. Hier buckeln
sie alle vor der Obrigkeit und treten gegen die Kollegen. Die sagen dir
die freundlichsten Sachen und wenn du dich umdrehst, rammen sie dir das
Messer in den Rücken.”

Ich frage nicht nach, ob das ihre persönliche
Erfahrung ist oder ob sie nur das generelle Klima von Gegeneinander,
Missgunst, Druck und Vereinzelung ist, das von der kapitalistischen
Konkurrenzgesellschaft gestiftet und immer weiter verschärft wird. Und
offensichtlich auch im Sozialbereich, oder gerade da – weil dort
Arbeitsbedingungen und Entlohnung besonders mies sind.
Ich gebe ihr
den guten Rat, den ich auch mir selber gebe: lieber grundlos vertrauen
als dass man als mißtrauischer Konkurrenzdepp durch die Welt läuft. Das
verhärtet nur die Seele.
Insgeheim vergeude ich ein paar wehmütige
Gedanken an meine frühere Arbeitsstelle im Annektionsgebiet und wünsche
mir einmal mehr, ich wäre nie nachm Westen gegangen.