Geschichten aus dem Pflegeheim: Endstation Altersheim

Wohnbereichsübergreifende Zeitungsrunde mit ca. 12 oder 14 Bewohnern. Die Meldung, dass ein israelischer Forscher die These aufstellt, Menschen könnten durch Veränderungen der Ernährung, gentechnischen Eingriffen und medikamentöser Behandlung bis zu 140 Jahre alt werden, löst lebhafte und ehrliche Diskussion aus.

Frau N., Anfang Neunzig, wirft ein: “Wozu denn? Damit man noch länger im Pflegeheim lebt? Ich hab mich jetzt an das Leben hier gewöhnt, aber glauben Sie mir, ich wollte oft genug Schluß machen, besonders anfangs, als ich herkam.”

Herr T., Ende Siebzig: “Im Pflegeheim zu landen ist das Ende. Man verliert seine Wohnung, und damit sein ganzes Leben. Alle Erinnerungen, der Ort, an dem man die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat, Kinder großgezogen hat – alles weg.”

“Wenn man auf die Hilfe von anderen angewiesen ist, verliert man seine Freiheit”, meldet sich die 75-jährige Frau W, “Meinen Sie, mir macht das Spaß, für jeden Toilettengang klingeln zu müssen? Was denken Sie, wie oft ich mich schon gefragt habe, was das für ein Leben ist und warum ich das ertragen muss. Das ist das Entwürdigendste überhaupt, wenn man sich selber nicht mehr helfen kann bei den einfachsten und intimsten Dingen.”

Ich frage in die Runde, ob die anderen das auch so sehen, und erhalte einhellige Zustimmung zur Antwort. Nach und nach reden fast alle über ihre Erfahrungen und Gefühle im Zusammenhang mit dem Verlust der Selbständigkeit, der Selbstbestimmung, der körperlichen Funktionsfähigkeit – vor allem aber über den Verlust der eigenen vier Wände und der Reduzierung des Lebensumfeldes auf ein Zimmer, das jederzeit von Dritten betreten werden kann und bei dem man sich oft genug Bad und Toilette mit einer weiteren Person teilen muss. Mehrfach höre ich Sätze über das Empfinden von Sinnlosigkeit, Depressionen, Selbstmordgedanken, inneren Rückzug bis hin zum Sich-Aufgeben und auf den Tod warten.

Offensichtlich ist es allen ein Bedürfnis, einmal Klartext zu sprechen über das grundlegende Gefühl von Verlust von Freiheit und Würde, Einschränkung und Entmündigung. Unter dem alltäglichen Sich-Arrangieren mit den Gegebenheiten und der “Besser als gar nichts”-Motivation fürs Mitmachen bei allen möglichen Angeboten und Aktivitäten im Heim bestimmt dies scheinbar die Erfahrung der BewohnerInnen.

Ich überlege, ob der innnere und äußere Raum für das Zulassen, Aussprechen und Anerkennen dieser Gefühle – idealerweise in einem professionellen psychologischen Rahmen – nicht eigentlich in jedes Alten- und Pflegeheim gehört. So wie die Dinge liegen, ist das Arbeiten oder der Umgang mit den teilweise traumatisierenden Erfahrungen Glückssache bzw. abhängig von der individuellen Befähigung und der Empathie der Pflege- und Betreuungskräfte.