Geschichten aus dem Pflegeheim: Von Ost nach West

Pausenschwätzchen mit Kollegin G.,
die als einzige außer mir  von Ost- nach Westdeutschland gekommen ist
(und im Gegensatz zu mir gelernte DDR-Bürgerin ist).
“Na, hast du dich schon eingelebt in NRW?” fragt sie mich.
Ich so: “Ach ja, geht so..” und erwähne, dass mir die Arbeitsatmosphäre
im Osten besser gefallen hat. Dort war es meinem Gefühl nach
kollegialer, menschlicher und kollektiver in der Zusammenarbeit, es
herrschte einfach ein anderes zwischenmenschliches Klima unter den KollegInnen.
Ich bin noch nicht halb fertig mit meinem Satz, da kriegt sie schon den
“Ja, sag ich doch, du sprichst aus, was ich auch meine”-Blick.
Dann holt sie aus:
“Ich bin jetzt sechs Jahre hier. In der Zeit hab ich eins gelernt:
jeder ist sich hier selbst der nächste. Und mein Vertrauen in die
Menschen hab ich komplett verloren. Jeder denkt hier nur an sich,
erzählt überall, wie toll er ist und weiss überhaupt nicht, was ein
Kollektiv ist. Deswegen müssen sie das ja auch "Team” nennen.“

Ich bin ganz Ohr. Als nächstes erzählt sie mir, was ich oft im Osten gehört habe:
"Wir haben ja früher StaBü (Staatsbürgerkunde) in der Schule gehabt.
War ja viel Propaganda, aber im Wesentlichen, das ist mir jetzt klar,
hat das alles gestimmt.”

In der Hoffnung auf weitere kapitalismuskritische Suaden nicke ich zustimmend.
“Wir haben drüben zusammengehalten gegen die Obrigkeit. Hier buckeln
sie alle vor der Obrigkeit und treten gegen die Kollegen. Die sagen dir
die freundlichsten Sachen und wenn du dich umdrehst, rammen sie dir das
Messer in den Rücken.”

Ich frage nicht nach, ob das ihre persönliche
Erfahrung ist oder ob sie nur das generelle Klima von Gegeneinander,
Missgunst, Druck und Vereinzelung ist, das von der kapitalistischen
Konkurrenzgesellschaft gestiftet und immer weiter verschärft wird. Und
offensichtlich auch im Sozialbereich, oder gerade da – weil dort
Arbeitsbedingungen und Entlohnung besonders mies sind.
Ich gebe ihr
den guten Rat, den ich auch mir selber gebe: lieber grundlos vertrauen
als dass man als mißtrauischer Konkurrenzdepp durch die Welt läuft. Das
verhärtet nur die Seele.
Insgeheim vergeude ich ein paar wehmütige
Gedanken an meine frühere Arbeitsstelle im Annektionsgebiet und wünsche
mir einmal mehr, ich wäre nie nachm Westen gegangen.