Selbst in einem Edelviertel wie dem linksrheinischen Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel werden die Anzeichen der Deindustrialiserung und Verarmung des kollektiven Westen, vor allem aber Europas, allmählich sichtbar. Immer mehr Läden schließen, die Anzahl der Bettler und der Leute, die in irgendwelchen Hauseingängen schlafen nimmt zu, man hört immer öfter, dass Nachbarn und Bekannten gerade ihren Job losgeworden sind, weil ihr Arbeitgeber dichtmacht. Dass alte Menschen abends die Papierkörbe nach Pfandflaschen durchsuchen, ist seit einigen Jahren auch in Oberkassel ein gewohnter Anblick.
Hinzu kommt ein Phänomen, das vielleicht nur in einem sehr bürgerlichen „weißen“ Viertel wie Oberkassel überhaupt auffällt: die zunehmende Anzahl von ausländisch aussehenden Männern in den Zwanzigern, die in dunkler Sportkleidung (oft in Kombination mit Baseball-Caps) mit dunklen Autos aus der Kategorie „Protzkarosse über 100.000 Euro“ vorfahren (oder lässig an diese gelehnt stehen und auf arabisch, albanisch oder türkisch in die flach vor ihren Mund gehalten Smartphones reden). Was das nun zu bedeuten hat, kann ich nicht einschätzen. Ich vermute einen Zusammenhang mit örtlicher Gastronomie, Prostitution und dem Vertrieb illegaler Substanzen.
Diese Beobachtungen veranlassen mich zu grundsätzlichen Spekulationen über die Natur des gesellschaftlichen Überlebenskampfes. Jeder dieser individuellen Marktteilnehmer erstrebt für sich ein Optimum an Erfolg, Glück, Zufriedenheit usw.. Das übersetzt sich in dieser Gesellschaft also in das Streben nach dem Stoff, der alle Wünsche wahr werden läßt: Geld. Daran zu kommen, und zwar an möglichst viel und möglichst regelmäßig, ist das A undO aller Bemühungen des marktwirtschaftlichen Individuums.
Die Hindernisse, die zu überwinden sind, die Zwänge, denen man sich unterwerfen muss, um bei diesem Spiel mitzumachen, versucht jeder, so gut es geht für sich nutzbar zu machen, um über die Runden zu kommen. Nicht-Teilnahme wird mit dem Untergang der bürgerlichen, oft der physischen, Existenz bestraft. Alles Streben nach dem bißchen privaten Glück, nach der Nische von Komfort und Sicherheit für sich und die Nächsten, hat sich den vorgegeben Regeln des Gelderwerbs und der gesellschaftlichen Organisation dieser Aktivität, also den Eigentumsverhältnissen, zu unterwerfen.
Der Blick des bürgerlichen Individuums scheint nie über den Tellerrand seines Erfolgsstrebens hinauszugehen. Es fragt sich nicht, woraus der Teller besteht, wer ihn da überhaupt hingestellt hat und warum einige sich nie fürs Zurechtkommen abrackern müssen, die meisten aber schon. Wenn man schon von lauter gesellschaftlichen Zwängen und Einschränkungen umstellt ist, die dem privaten Streben immerzu Steine in den Weg legen und die den Zugang zu den Mitteln der Realisierung des Erstrebten sehr einseitig verteilen – wäre es dann nicht sinnvoll, sich über die Zustände sachkundig zu machen, innerhalb derer dieses private Streben stattfindet?
Man könnte dann herausfinden, dass man weder selber den Tausch gedeckt hat, noch über die Verteilung der Portionen mitzureden hat. Man hat den Teller hingestellt bekommen und darf in aller Freiheit zusehen, wie man ihn gefüllt kriegt. Jeder Versuch, über den Tellerand hinauszuschauen, wird von den Dienern des Restaurantbesitzers höchst ungern gesehen, nach Möglichkeit abgewürgt und mit dem Hinweis auf die vielfältigen bunten Dekorationen auf dem Tellerrand abgebügelt. Wenn dann einer partout immer noch den Kopf heben und mal in die Küche schauen möchte, kriegt er den ultimativen Satz aller Sätze auf die Ohren: „Schnauze! Sei froh, dass es überhaupt Suppe gibt! Eine andere Küche gibt es nicht, jeder der das versucht hat, ist verhungert!“
All die vielen Worte sollen nur meine Verwunderung ausdrücken, dass alle Welt so beschäftigt ist mit dem Streben nach dem individuellen Glück und so desinteressiert an den Bedingungen, unter denen dieses Streben stattfinden muss.