Familiengeschichte: Der kommunistische Onkel

Der Bruder meines Großvaters war ein sympathischer, humorvoller Mann. Er sprach französisch, konnte gut Gitarre spielen und hatte reichlich Geschichten auf Lager. Als in Deutschland die Faschisten an die Macht kamen, ging er nach Frankreich und schloß sich dort der Résistance an.

Eine Geschichte, an die ich mich erinnere, geht so: als die Gestapo im besetzten Frankreich in dem Ort erschien, wo mein Onkel (in Wahrheit meine Großonkel, aber wir nannten ihn nur “Onkel W.”) untergetaucht war und nach deutschen Deserteuren und Widerstandskämpfern suchte, wurde auch er kontrolliert. Er sprach zu dem Zeitpunkt allerdings schon so gutes Französisch, dass er als Franzose durchging und so der Verhaftung entging.

Mein Onkel hatte einen Makel: er war Kommunist. Was genau das war, wurde uns Kindern nicht erklärt, aber es wurde gewissermaßen hinter vorgehaltener Hand kolportiert, quasi als wichtige, wenn nicht entscheidende Zusatzinformation zu der Person Onkel W.

Für mich hatte er dadurch immer ein unsichtbares Hologramm über sich schweben, in dem abwechselnd Stalin, Ulbricht, Mauer & Stacheldraht und arme, graue, unterdrückte Menschen auftauchten, die alle nach Freiheit lechzten (allerdings wußte ich genauso wenig, was “Freiheit” war; außer das sie – die Freiheit – “bei uns” auf jeden Fall herrschte und von Kommunisten aus reiner Bösartigkeit abgeschafft werden sollte).

All das brachte ich nicht mit dem sympathischen, großzügigen, humorvollen Onkel zusammen, zumal er obendrein ein Eigenheim in einem Hamburger Vorort besaß. Und das passte nun GAR NICHT zusammen mit dem, was ich über den Kommunismus wusste. Wollten denn die Kommunisten nicht allen alles wegnehmen und das Eigentum abschaffen? Was mir auch nicht klar war: wieso kämpften die Kommunisten gegen die Nazis, wenn doch Kommunismus und Nationalsozialismus das Gleiche und beide darauf aus waren, die Menschen zu unterdrücken, einzusperren und ihrer Freiheit zu berauben?

So richtig erklärt wurde das nie; Familienkonsens war allerdings, dass die Kommunisten (jedenfalls in Gestalt von Onkel W.) insofern besser sind als die Nazis, als sie diese abgelehnt und bekämpft haben. Ganz so, wie die WIRKLICHEN Widerstandskämpfer, die Sozialdemokraten, zu denen mein heldenhafter Großvater mütterlicherseits gehörte, der dafür in Gestapo-Haft und im Strafbatallion 999 büßen musste.

Unter der Hand schwang in den (seltenen) familiären Gesprächen über dieses Thema immer mit: Beide, Sozialdemokraten und Kommunisten, haben Widerstand geleistet, aber den Kommunisten haftet der Makel an, dass sie ja im Grunde totalitär sind, eine Diktatur anstreben und überhaupt gegen “die Freiheit” sind.

Leider ergab sich selten ein Besuch beim Onkel; er schwebte zwar wie ein roter Satellit im Orbit der Familie, hatte aber wenig Kontakt zu den Enkelkindern seines Bruders. Sein Nimbus als Kommunist hatte für mich gleichzeitig eine gefährliche und faszinierende Aura. Durch den Wegzug aus Hamburg (zu dem Zeitpunkt war ich 13 Jahre alt) verlor sich der Kontakt ganz. Ein paar Jahre später starb er und anschließend erfuhren wir, dass er jedem von uns 10.000 DM vererbt hatte. Einfach so.
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Ich glaube, heute bin ich für meine Verwandtschaft “der kommunistische Onkel”. Leider hab ich außer ein paar Zeichnungen nichts zu vererben, aber das wird von Kommunisten ja auch nicht erwartet.