Der letztwöchige Besuch bei der Verwandtschaft der Frau war ein Ausflug in das Leben der Oberschicht. Die besuchte Cousine bewohnt eine gigantische Villa mit riesigem Garten in einer der Oberklassen-Gemeinden nördlich von Frankfurt. Die Kinder sind aus dem Haus, der Mann arbeitet in den USA im finanzkapitalistischen Sektor für einen Investmentkonzern, das Vermögen ist in einer Stiftung angelegt.
Im Gegensatz zu der in ähnlichen Klassenprivilegien lebenden Schwester der Frau (die vor lauter Klassenarroganz ihren – angeheirateten – Wohlstand nicht nur für ihr höchst eigenes Verdienst hält, sondern als Ausweis ihrer menschlichen und moralischen Überlegenheit über monetär minderbemitteltere Zeitgenossen sieht), ist die Cousine allerdings „normal“ geblieben, hat Humor und das Herz auf dem rechten Fleck. Die Tatsache, dass sie sich sowohl ihre Empfindsamkeit wie eine gewisse unverstellte Sicht auf die Conditio Humana bewahrt hat, manifestiert sich allerdings in einem ausgiebigen Gebrauch legaler Drogen.
Umgang und Gespräche mit ihr sind jedoch erfrischend, unterhaltsam und mitunter tiefgründig. Anläßlich eines bei ihr im Hause vergessenen Anoraks kommt es zu einem Telefonat, indem sie mir folgende Anekdote mitteilt:
„Weisst du was das Beste ist? Pass auf, der J. (Ihr Mann) und ich haben uns fast eingenässt vor Lachen: Deine Schwiegermutter hat meine Mutter angerufen, damit die mich warnt. ‚Sag mal deiner Tochter, dass der Kay ein Kommunist ist. Also nicht nur irgendsoein Linker, sondern Kommunist durch und durch!‘“
Ich muss ebenfalls loslachen und fühle mich wie in einem bizarren antikommunistischen Film aus der McCarthy-Ära. Ich schlage meiner Gesprächspartnerin vor, lieber vorsichtig zu sein und schnell aufzulegen – sonst würde ihr nachts noch Stalin erscheinen oder plötzlich „Die Internationale“ als Klingelton ihres Smartphones ertönen…
Wir reden dann aber doch noch eine Weile weiter und amüsieren uns gemeinsam über den putzigen Versuch ihrer Tante/meiner Schwiegermutter, unter dem Vorwand der wohlmeinenden Warnung vor abweichenden Meinungen Zwietracht zu stiften und sich selbstwichtig in Szene zu setzen. Da mir durch meinen täglichen Umgang mit Hochaltrigen, Dementen und altersbedingt verwirrten Menschen sowieso nichts Menschliches fremd ist, weiss ich die Einlassung meines alten Schwiegermütterchens – Produzentin der republikweit allerbesten Blaubeer-Pfannkuchen – richtig einzuschätzen und beschließe, beim nächsten Besuch mal mein DDR-blaues T-Shirt mit der Aufschrift „Brigade der sozialistischen Arbeit“ anzuziehen.
Für mich interessant: meine anthropologischen Feldstudien in EINER Familie mit zwei Sorten Bourgeois durchführen zu können. Sowohl die klassischen Exemplare voller Standesdünkel und Klassenarroganz als auch menschlich korrekte Vertreter ihrer Klasse, die einfach Fachleute der kapitalistischen Geldvermehrung sind, weil das die Welt ist, in die sie geboren wurden und in der sie für sich das Beste rausholen. Opfer des Ausbeutersystems sind sie (genau wie die lohnabhängige Klasse sowieso) beide, selbst wenn sie sich auf der Gewinnerseite der gesellschaftlichen Hierarchie wähnen.