Zu meinen Lieblingsbeschäftigungen in diesem merkwürdigen Leben gehört das Betreiben anthropologischer Feldstudien unter der terrestrischen humanoiden Population. Dazu muss ich keinerlei Aufwand treiben, sondern bloß Augen und Ohren offenhalten.
Die bizarre Absurdität menschlichen Strebens und Verhaltens offenbart sich in fast jeder Handlung und Interaktion dieser Spezies.
Heute, letzte Runde mit dem Hund, beim Öffenen der Haustür auf die Straße:
Auf dem Parkplatz direkt vor dem Haus und unmittelbar gegenüber dem Hauseingang, keine 2m von mir entfernt, steht ein weißes Porsche-Cabriolet mit heruntergelassenem Verdeck. Drinnen sitzt ein weißbehemdeter Mittdreißiger mit Spiegelsonnenbrille und telefoniert über die Freisprechanlage seines Luxusfahrzeuges. Der Sound ist so laut eingestellt, dass wirklich jeder im Umkreis von 50m die Konversation mitkriegt; ein Umstand, der dem Porschefahrer sichtlich gefällt: er strahlt über beide Backen und versucht dabei, möglichst cool auszusehen. Sein Gesprächspartner lässt sich derweil lang und breit über Bankgeschäfte oder irgendwelche finanziellen Kniffe und Tricks aus.
Ich stehe mit meinem Hund einige Augenblicke lang da und schaue mir den Erfolgsmenschen an, dessen Bedürfnis, seine erfolgreiche Wichtigkeit der Umwelt mitzuteilen, wohl sehr groß ist. Dann frage ich ihn, ob er etwas lauter stellen kann, da ich einige Details der Unterhaltung nicht mitbekommen hätte.
Er grinst, keineswegs peinlich berührt oder schuldbewußt, dreht aber leiser und lässt das automatische Verdeck des Wagens hochfahren.
Die anschließende Hunderunde führt mich durchs Oberkasseler Neubaugebiet mit seiner Fußgängerzonen-Ladenzeile. Vorm REWE kniet ein osteuropäisch aussehender Profi-Bettler und hält den Herauskommenden stumm seine umgedrehte Schirmmütze entgegen. Er kniet so, dass er etwa ein Viertel des Eingangs blockiert, so dass er nicht nur auf jeden Fall bemerkt wird, sondern man ihm ausweichen muß. Die ganze Haltung, die ganze Person ein einziger Appell an das schlechte Gewissen der konsumkräftigeren Marktkunden, eine stumme Aufforderung, dieses Gewissen zu entlasten, indem man sich mit einer milden Gabe Ablaß erkauft.
Gleichzeitig allerdings geht von dem Bettler – ein gesund wirkender Mann desselben Alters wie der Porschefahrer von vorhin – eine aufdringliche Mitleidsheischerei aus, die einer subtilen Nötigung nahekommt; ich meine ihr anmerken zu können, dass Haltung, Outfit (ärmlich, aber nicht schmutzig) und das kniende Beharrungsvermögen die Geschäftsgrundlage dieses Mannes ist, so wie Geld-, Kredit- und Spekulationsgeschäfte diejenige des Porschefahres.
In beiden manifestiert sich dasselbe Ego, einmal wichtigtuerisch und prahlerisch, und einmal demütig und bescheiden. Der Macher und das Opfer. Das offensichtliche und das subtile Ego. ERFOLG wollen sie beide, in ihrem jeweiligen Geschäftsbereichen. Wären sie in den jeweils anderen sozialen Umständen der Klassengesellschaft sozialisiert worden, würde vielleicht der Bettler den Porsche fahren und der Businessangeber vorm Supermarkt betteln.
Beide scheinen mir Täter und Opfer zugleich zu sein, nämlich der Klassengesellschaft und der ihr eigenen Freiheit, sich ganz demokratisch einen Dreck um ein Verständnis ihrer Mechanismen und Prinzipien zu scheren, um sich ausschließlich ums Zurechtkommen in ihr kümmern zu können.
So wie Ameisen, die die Welt ihres Hügels für Angang und Ende des Universums halten und auch halten MÜSSEN, wenn sie als Ameise überleben wollen.