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Geschichten aus dem Pflegeheim: Das Virus und/oder die Maßnahmen zu dessen Eindämmung fahren wie ein Schwert in die Risikogruppe in den Pflegeheimen
„Soziale Distanz“ bestand für mich in letzter Zeit vor allem in der Entwöhnung von der ständigen Online-Aktivität in Sozialen Medien. Nach einigen Wochen digitaler Entgiftung erscheint mir Facebook nach wie vor als Irrenhaus, das immer lauter und irrer wird. Ganz und gar war die Entwöhnung allerdings nicht; ab und zu hab ich mal reingeschaut. Was ich sah, bestätigte meinen Entschluss, mich vorerst von diesem Marktplatz der Meinungen fernzuhalten.
Die Welt dreht sich auch ohne Facebook weiter; sie dreht sich auch weiter, ohne dass ausgerechnet ich meinen Senf zu jeder politischen oder sonstigen Wurst gebe, die in der virtuellen Öffentlichkeit der Filterblase gebraten bzw. ausgeschieden wird.
Abgeschreckt hatte mich vor einigen Wochen die zunehmende Hysterie und Irrationalität in meiner Timeline. Selbst Leute, die ich im Allgemeinen für zurechnungsfähig halte, werden angesichts der gegenwärtigen Pandemie offenbar reihenweise nicht nur zu Experten aller möglichen wissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen, sondern geben ihren gesunden Menschenverstand an der Garderobe der rechthaberischen Missioniererei ab.
Am erstaunlichsten finde ich die Zeitgenossen, denen am leichenträchtigen Funktionieren des ganz normalen kapitalistischen Geschäftsganges nie und nimmer etwas auffällt; denen die demokratischen Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft wie Überwachungsstaat, Aufrüstung, Kriege und Kriegsvorbereitung, Hetze gegen Rußland und China, Verarmung und Ausbeutung allesamt und ganz grundsätzlich am Arsch vorbei gehen, solange sie (die besagten Zeitgenossen) in ihrer Nische ein Geld verdienen können.
Kaum sollen sie aber mal eine Zeitlang zur Eindämmung einer Pandemie eine Atemschutzmaske aufsetzen und sich von den lieben Mit-Untertanen etwas entfernt halten, werden dieselben Zeitgenossen zu Rebellen und Revolutionären (oder halten sich dafür), weil sie plötzlich an den staatlichen Maßnahmen lauter Freiheitseinschränkungen und Eingriffe in ihr höchst individuelles Meinen und Konsumieren entdecken.
Die Lautstärke, mit denen diese Freiheitshelden ihre „Freiheit“ zu verteidigen wähnen, steht nicht nur in auffallendem Gegensatz zu ihrem sonstigen Schweigen, wenn es um den freiheitlichen Normalbetrieb ihres geliebten (mitunter auch kritisierten) Kapitalismus geht – der unterwirft sie nämlich ebenfalls lauter Zwängen, zuallererst dem des Geldverdienenmüssens mit all seiner Ungemütlichkeit der Einsortierung der Klassengesellschaft in Arbeit und Reichtum, in Besitzende und Lohnarbeiter, in Leute, die sich das Leben leisten können und solche, die das nicht oder nur unter beständigen Härten und Nöten hinkriegen.
Sie macht auch deutlich, was für die jetzt so Empörten „FREIHEIT“ ist:
der normale Geschäftsbetrieb der Kapitalakkumulation, von dessen Zwängen und Schäden sie aber nichts wissen wollen. Dass diese schöne Freiheit DAS Herrschaftsinstrument derjenigen Interessen ist, die in einer kapitalistisch verfaßten Gesellschaft nun mal das Sagen haben, will ihnen weder im bürgerlichen Normalbetrieb noch im pandemiebedingten Lockdown auffallen – zumal sie ja ohnehin glauben, dass Demokratie keine Herrschaftsform, sondern reine Volksbeglückung ist, da man ja wählen darf. Schon der Hinweis auf Machtausübung und Herrschaftsinstrumentarium, die hierbei in dem Wörtchen „darf“ enthalten sind, entgeht einem freiheitlichen Bürger in der Regel.
Als Beschäftigter in einer Pflegeeinrichtung erlebe ich seit ca. 6 Wochen, welche Schneise die Corona-Pandemie in die Risikogruppe schlägt. Die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter verschlechtern sich mit jeder neuen Regelung, die dem Schutz der Bewohner dienen sollen – und es wohl auch tun, wenn man die Situation in Ländern wie Italien oder USA in Betracht zieht. Das Virus und/oder die Maßnahmen zu dessen Eindämmung fahren wie ein Schwert in die Risikogruppe in den Pflegeheimen. Sofern nicht daran gestorben wird, werden die Lebensbedingungen der Bewohner auf eine Weise eingeschränkt, die von immer mehr alten Menschen kaum noch ausgehalten werden.
Nicht nur, dass keinerlei Besuche von außen mehr möglich sind (weder Verwandte, noch Friseur, Fußpflege, Unterhaltungskünstler usw.), auch innerhalb der Einrichtung selber werden die Bewohner, aber auch die Mitarbeiter, auf die Wohnbereiche beschränkt und selbst diese noch einmal in Untergruppen aufgeteilt. Die Begründung dafür ist die Nachvollziehbarkeit von Infektionsketten, sofern es zu einer Ansteckung kommt.
Obendrein wird jeder, der außerhalb des Geländes unterwegs war – egal ob Arztbesuch oder eine Runde um den Block – zu einer zweiwöchigen Isolation auf sein Zimmer verbannt. Mehr als einmal habe ich in den vergangenen Wochen weinende Alte vor mir gehabt, die die Situation kaum ertragen und darunter leiden, ihre Kinder, Enkel usw. nicht zu sehen.
Für die Mitarbeiter gilt inzwischen Maskenpflicht bei allen Tätigkeiten. Wer eine ganze Schicht über einen Atemschutz tragen muß, kann nur den Kopf schütteln über Maulhelden, die wegen einer einigermaßen sinnvollen Vorschrift, nämlich im ÖPNV und in Geschäften Atemschutzmasken oder -schals zu benutzen, einen Radau machen, als ob die Diktatur ausgebrochen wäre.
Ja, sie IST ausgebrochen, aber von jeher als conditio sine qua non der kapitalistischen Herrschaft: als Diktatur der Bourgeoisie, die Freiheit als Herrschaftsinstrument ihrer Macht über die Reproduktion der Gesellschaft schätzt und einsetzt. Und deren Staat diese Freiheit eben bei Bedarf auch mal einschränkt, wenn es die Aufrechterhaltung dieser Herrschaftsform zu erfordern scheint.
Man muss kein Regierungsanhänger oder Fan der bürgerlichen Staatsmacht sein, um die Maßnahmen zur Begrenzung der Infektionswege weitgehend nachzuvollziehen. Dass ein kapitalistischer Staat- zumal einer von der Wucht und dem imperialistischen Anspruch der BRD – die Gelegenheit nicht verstreichen lässt, um auch aus dieser Krise „gestärkt hervorzugehen“, wie es die Regierung verkündet, und deswegen gleich noch mal die ohnehin laufende Umverteilung von unten nach oben sowie die Überwachung und Einschränkung bürgerlicher Rechte ein paar Umdrehungen weiter schraubt: das sollte nicht überraschen.
Wie gesagt habe ich gelegentlich doch mal in die Facebook-Timeline reingeschaut. So schnell wie ich bei den hysterischen Besserwissern und Freiheitsaposteln weiter gescrollt habe, so lange bin ich verharrt bei den – nicht so zahlreichen, aber durchaus vorhandenen – Beiträgen, die sozusagen die Weltvernunft widerspiegeln. Bei letzteren handelt es sich ausnahmslos um solche, die die derzeitige Situation in den Zusammenhang stellen mit dem umfassenden Anschlag der herrschenden Klasse auf die Lebensbedingungen und ideologische Gesundheit der lohnabhängigen Klasse, der schon vor der Pandemie epidemisch war.
Als Quelle einer für medizinische Laien wie mich vernünftig erscheinenden Einschätzung der Pandemie haben sich für mich die Veröffentlichungen von Prof. Paul R. Vogt in der „Mitteländischen Zeitung“ erwiesen:
https://www.mittellaendische.ch/2020/04/20/covid-19-update-von-prof-paul-r-vogt/
Ebenso die Beiträge „Pandemie I“ bis „Pandemie V“ des GEGENSTANDPUNKT, die politische Einordnung der Pandemie betreffend:
https://de.gegenstandpunkt.com/