Parkspaziergang VII: Die Entführung

Diesmal haben sie es geschafft. Sie haben uns entführt. Die Zeitreisenden haben uns beide, mich und den Hund, in ihrem transtemporalen Beförderungsvehikel trans-, tele- oder sonstwie portiert, jedenfalls wurden wir aus unseren üblichen Parkrunde im Feldmühlepark heraus auf mysteriöse Weise in ihre „Schiffe“ hineingezogen (ohne dass ich eine physische Bewegung merkte) und innerhalb einer zeitlosen Spanne in eine andere Realität versetzt. 

Dabei befanden wir uns INNERHALB der „Schiffe“, umgeben von fremdartig anmutenden Gerätschaften, Messinstrumenten, Kontrollpanels usw., an denen schemenhafte „Aliens“ herumhantierten – und gleichzeitig war ich von der unhinterfragten Gewißheit durchdrungen, dass wir uns ebenso INNERHALB unseres eigenen Geistes aufhielten. Dabei waren der Geist des Hundes und meiner auf höchst belustigende Weise vermischt; so spürte ich zum Beispiel eine äußerst zufriedenstellende Fokussierung (um nicht zu sagen Reduktion) auf rein instinktive, intuitive Wahrnehmungen und ein starkes Verlangen nach Fleischsorten, deren Verzehr mich sonst ekeln würde – und zwar vorzugsweise zum Abzunagen von Knochen und Skelettteilen. Diese Wahrnehmungsphänomene beunruhigten oder verstörten mich jedoch mitnichten, sondern schienen mir im Gegenteil das Normalste und Natürlichste von der Welt; ich hinterfragte sie weder, noch machte ich mir überhaupt Gedanken dazu; sie waren einfach da.

Wie es dem Hund erging, ob er Ähnliches fühlte und sich nun auf einmal menschlicher Verstandesinhalte gewahr wurde, vermag ich nicht zu sagen. Jedenfalls sah er mich gelegentlich mit einem Blick an, der anders und gewissermaßen „schlauer“ als sonst wirkte und von einer Mischung aus Erstaunen und Belustigung geschient war.

All dies geschah wie gesagt innerhalb einer zeitlosen Spanne einer – so dünkte es uns – extratemporaler Lücken im Raum-Zeit-Kontinuum, deren Dauer nicht festzustellen war. Waren ein paar Sekunden vergangen oder ein halber Tag? Es gab keine Möglichkeit, dies festzustellen. Ähnlich wie im Traum verging keine Zeit im herkömmlichen Sinne. wurden wir Plötzlich wurden wir,  so wie man aus einem Traum aufwacht, jedoch in einen weiteren Bewusstseins- oder Realitätszustand befördert. Allerdings einen von der Art, den man ebenfalls aus Träumen kennt: man meint, zu erwachen, stellt aber nach wenigen Augenblicken fest, dass man in einen weiteren Traum „erwacht“ ist.

Die „Schiffe“ waren dabei einerseits die Hüllen, in denen wir von A nach B transportiert wurden, andererseits hatten sie den Charakter des gesamten INNEREN unseres (meines auf jeden Fall) Bewusstsein – ein INNEN allerdings, das sich auf das gesamte Universum erstreckte. Etwas in mir sträubt sich immer noch, diese Dinger „Raumschiffe“ zu nennen, obwohl sie mich diesmal eindeutig nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch den Raum transportierten. 

Auch wenn von dem Transport nichts zu spüren war, befanden wir uns plötzlich in einer anderen – ja was? Realität? Zeit? Einem anderen Planeten? Wir waren nun in einer rötlichen Landschaft, die ein wenig wie Arizona oder der Mars aussah. Der Himmel war von fliegenden Geräten und Maschinen bevölkert, die irdischen Naturgesetzen zu trotzen schienen. Aber waren wir überhaupt auf der Erde? Oder im 21. Jahrhundert? 

Von unseren Entführern, die während des „Transports“ ohnehin mehr wie Schatten und Schemen umhergeflattert waren, war jetzt nichts mehr zu sehen. Ein viktorianisch anmutendes Luftschiff (diesmal ein Gefährt, dass diesen Namen tatsächlich verdiente), auf dem wir uns plötzlich wiederfanden, brachte uns zu einer felsigen Anhöhe, von der aus wir einen Blick in die Weite hatten. Alles war von einer Art staubiger, aber transparenter Substanz erfüllt, die der Kommunikation unter den zahlreichen Wesen, Geräten und Elementen dieser Welt zu dienen schien, denn all diese einzelnen belebten und unbelebten Wesenheiten waren in beständigem Austausch miteinander, einem wortlosen Flüstern ähnlich, das deutlich vernehmbar war. Nicht mit den Ohren allerdings, sondern als Grundrauschen der Existenz in dieser seltsamen Welt.

Auf meiner Schulter ließ sich ein mechanischer Vogel nieder – besser: er manifestierte sich – und „erklärte“ mir diese Zusammenhänge, indem er mich bzw. mein Gehirn einbezog in das flüsternde Gemurmel der (Un-)Wirklichkeit dieser Welt. Nach einer Weile stachen aus seinem leisen Gezwitscher einzelne Worte und Sätze heraus, die er unablässig wiederholte: „Es ist ein Traum“, „Du träumst, wach auf!“, „Die Substanz der Dinge ist Traum“. 

Dann hörte ich NUR noch diese Sätze, die Bilder verschwanden und ich wachte auf. Um nicht zu vergessen, was mir gerade (wenn auch nur im Traum) widerfahren war, stand ich um, ergriff Schreibfeder und Papier, und notierte die Erlebnisse von soeben. Als ich an der Stelle angelangt war, wo der mechanische Vogel sein Mantra in meine Ohr flüsterte, geschah etwas höchst Unerwartetes: ich wachte erneut auf und war zunächst völlig verwirrt und nicht schlaf-, sondern traumtrunken. Obwohl ich wach geworden war,  war mein Empfinden das eines Träumenden, mitsamt der unbezweifelten, nie in Frage gestellten  Gewissheit, mit im Traum auch Phänomene wahrgenommen werden, die Logik und Naturgesetzen widersprechen.

Ich lag in meinem Bett, der Hund stand schwanzwedelnd am Fußende und wartete auf seine morgendliche Spazierrunde. Da es nichts anderes zu tun gab und der Kamerad sichtbar dringend Gassi zu gehen begehrte, stand ich auf, wusch kurz das Gesicht und kleidete mich in die Tagesgarderobe. 

Jetzt weiß ich nicht (mehr), wie Traum und Wirklichkeit auseinanderzuhalten sind. Findet unser Spaziergang statt, während ich träumend im Bett liege? Bin ich wirklich wach und erinnere mich an den Traum der vergangenen Nacht? Durchdringt sich am Ende gar beides und wäre damit erst recht ein Anzeichen einer von außerirdischen Zeitreisenden induzierten Parallelrealität?

Natürlich lässt sich keine dieser Fragen vernünftig beantworten. Eines steht fest: Vorläufig werden Hundi und ich den Feldmühle Park nicht mehr betreten.