Geschichten die das Leben schrieb: philosophische Betrachtungen im Park

Bei der morgendlichen Runde mit dem Hund kommen der Frau, dem Kumpel und mir im Park zwei Jung-Eltern mit Kinderwagen entgegen. Beide bereits an der dezenten, teuren Bekleidung unschwer als Vertreter der hippen, aber nicht zu flippigen urbanen oberen Mittel- bis Oberschicht zu erkennen, die den Oberkasseler Gentrifizierungscluster bevölkert. In Berlin träfe man diese Schicht vermutlich vorzugsweise am Prenzlauer Berg an.

„Der Kinderwagen! Der ist von Bugaboo, das sind die teuersten, da gibt’s auch noch jede Menge sauteures Zubehör für!“ klärt mich die Frau auf, nachdem die junge Familie uns passiert hat. Sie hat nämlich registriert, dass am Griff des Wagens eine Art Muff für die Hände der Elternperson angebracht ist, damit die zarten Hände der Schiebenden nicht kalt und rissig werden.

Ich wundere mich, woher die Liebste solche Detailkenntnisse über Kinderwägen hat und bin insgeheim froh, dass wir die Nistbau- und Brutpflegephase kinderlos hinter uns gebracht haben. Mir klingt ein Gesprächsfetzen im Ohr, den ich beim Vorübergehen des Paares aufgeschnappt habe: „… und alles doppelt verglast, das muss man auch beachten…“

„Somebody spoke and I went into a dream…“ – Blitzartig entsteht vor meinem inneren Auge das Panorama der Menschheitsgeschichte, der Weg der Spezies vom Einzeller zum Kinderwagenschieber oder Hundeausführer. Männliches und weibliches Prinzip, das Yin und Yang der Natur, die die Fortpflanzung gewährleistende komplementäre Aufteilung der Spezies in zwei Geschlechter – all das liegt wie ein offenes Buch vor mir.

Das weibliche Prinzip dient der Erhaltung, der Hege und Pflege, der Einrichtung und Sicherung der unmittelbaren Umgebung, der Feuerstätte, der Behausung; es ist die Hüterin des individuellen Lebens und primär nach innen gerichtet. Das männliche Prinzip ist auf die Bewahrung des kollektiven Lebens gerichtet, auf Eroberung und Verteidigung des territorialen und mentalen Gruppenverbundes, seine Bewegung geht vorrangig nach draußen, in die Beherrschung der äußeren Bedingungen des Überlebens. Beide Prinzipien sind in beiden Geschlechtern angelegt, manifestieren sich aber in der Regel in den jeweiligen Exemplaren der Spezies entlang des biologischen Geschlechts.

Meine Betrachtung geht weiter: im Grunde ist die gesamte Spezies immer noch im Kindheitsstadium. Kinder nehmen die Welt so hin, wie sie ist, sie fragen nicht nach dem Warum, sie interessieren sich nicht für Ursachen und Hintergründe der Erscheinungen. Für Kinder IST die Welt eine unverrückbare Realität, in die die Natur oder das Leben sie hineingestellt hat.

Der moderne Mensch, genau wie der Höhlenbewohner vor 500.000 Jahren, ist sein Leben lang damit beschäftigt, in einer unverständlichen und ihm vor die Nase gesetzten Welt sein Überleben zu sichern. Auch die schlauen Anzug- und Krawattenträger, die unsere Welt beherrschen und die Ökonomie kommandieren, wissen zwar, WIE man die vorgefundene Welt zu seinem Vorteil (oder dem seiner Gruppe) benutzt. Sie WOLLEN aber überhaupt nicht wissen, WARUM das so ist. Ganz besonders wollen sie nichts davon wissen, wie sehr dieses WARUM mit Eigentumsverhältnissen und Geldvermögen als Kapital verknüpft ist.

Die Menschheit, so scheint mir, wird den Schritt in die Adoleszenz erst machen können, wenn sie ihre Reproduktion geplant und bedürfnisorientiert organisiert und die infantile, primitive Einteilung in Besitzende und Besitzlose, in arm und reich, in Kapital und Arbeit endgültig hinter sich läßt. Bis dahin bleibt die Spezies als solche auf der Stufe eines unmündigen Kindes, das so gut es eben geht versucht, mit der Welt, die es vorfindet, zurecht- und in ihr auszukommen.

Aus der Inneren Reise durch Raum und Zeit, vom Morgengrauen des Homo sapiens bis in eine hoffentlich nicht noch einmal eine Million Jahre entfernte Zukunft gesellschaftlicher Vernunft und Freiheit, komme ich zurück in den menschlichen Körper, der, einen Hund an der Leine führend, mit einem anderen Exemplar der Spezies durch einen Düsseldorfer Park läuft.

Ich versuche, der Liebsten meine Gedankengänge nahezubringen und berichte ihr von meiner Reise durch die Menschheitsgeschichte, die insgesamt höchstens ein paar Sekunden Erdzeit gedauert hat.

Sie hört zu. Am Ende schweigt sie eine kurze Weile und verkündet dann: „Also, ich sag dir jetzt mal was: Ich hab Hunger!“

Quod erat demonstrandum.