Geschichten die das Leben schrieb: Der Charme des Verfalls ist gar keiner, sondern Bote des bevorstehenden Untergangs

Ein ausgedehnter Spaziergang durchs Wohnviertel und die angrenzenden Parkanlagen bringt mich in Kontakt mit dem Grad an Vermüllung und Achtlosigkeit, der einem überall begegnet. Selbst in einem Oberschichtsviertel wie Oberkassel liegen in auffallender Menge Flaschenscherben, Essensverpackungen, Masken, und jedweder sonstiger Müll herum. Ist die Stadtreinigung im Streik? Kommen die nur noch einmal die Woche? Ist sowieso schon alles egal?

Es scheint so, als ob sehr viele Zeitgenossen sämtliche Utensilien, alles Material, was nicht mehr gebraucht wird, unter sich fallen lassen, ohne Achtung und ohne Respekt für Umgebung und andere Leute, die sich den Dreck dann angucken müssen. Und – sofern sie Hundehalter sind – auch noch aufzupassen haben, dass der Vierbeiner nicht in die Scherben tritt.

Auf gewisse Weise ist ein solches Verhalten natürlich sehr passend zum Credo des kapitalistischen Menschenbildes des homo oeconomicus, der eben nur das tut (und tun MUSS, wenn er Erfolg in der Konkurrenz haben will!) was seinem eigenen unmittelbaren Vorteil dient.

Ich wende mich an die Liebste: „Sag mal, kriege ich jetzt das Alter-Mann-Meckersyndrom und maule über etwas, was ich früher gar nicht wahrgenommen habe, oder ist das in den letzten Jahren tatsächlich so deutlich mehr geworden mit dem Müll, der hier überall rumliegt?“

Die Frau, im Gegensatz zu mir nicht erst seit fünf, sondern seit 35 Jahren im Viertel wohnhaft, überlegt kurz und antwortet: „Nee, das stimmt schon. Ich würde sagen, seit Corona hat das so zugenommen. Das ist schon auffällig.“

Wir unterhalten uns über den schleichenden, aber sichtbaren Verfall in unserem vergleichsweise wohlhabenden Stadtteil. Neben einer Menge Bau- und Renovierungstätigkeit an der vierteltypischen Altbausubstanz (ganze Altbauten werden entmietet und kernsaniert, um sie in hochpreisige Eigentumswohnungen für die nach wie vor zahlungsfähige Oberschicht umzuwandeln) springen einem überall Geschäftschließungen und leere Läden ins Auge.

Selbst der große Bio-Supermarkt im Neubaugebiet, Anlaufstelle der grünen Jungmütter mit ihren Lastenfahrädern, musste schließen – der Umsatz ließ aus Sicht der Geschäftsleitung an diesem Standort nicht mehr genug Profit übrig, um die Ladenmiete von monatlich 20.000,00 Euro zu stemmen.

Was nachkommt, sind in der Regel Filialen und Franchises von bundes- oder NRW-weit tätigen Ketten, manchmal auch extrem hochpreisige Modegeschäfte, die ihr Glück in diesem immer noch überdurchschnittlich kaufkraftstarken Viertel versuchen.

Insgesamt komme ich mir bei diesen Rundgängen (und generell in diesem Leben) mehr und mehr vor wie jemand, dem ein gut geschminkter und parfümierter Adliger begegnet, der trotz etwas in die Jahre gekommener Klamotten noch recht ansehnlich aussieht – aber nur von weitem. Kommt man näher, sieht man die Pestbeulen und die offenen Geschwüre unter der Schminke, und der Gestank von Fäulnis dringt einem in die Nase. Als ob es nur eine Frage der Zeit sei, bis sich dies alles – dann endgültig für jeden sichtbar und erkennbar – in Richtung Kollaps, Untergang und Tod bewegt.

Und das ist genau das Ende, das ich diesem Gesellschaftssystem, diesem Kapitalismus wünsche und gönne – auch wenn mir vor den Begleiterscheinungen dieser Entwicklung für die lohnarbeitende Klasse gruselt.