Feiertagsgedanken: Renditestarkes Mehrfamilienhaus, das Haifischbecken der Realität und der Weinkeller

Bei der gemeinsamen Hunderunde im Düsseldorfer Nobelviertel Oberkassel klärt mich die Liebste auf über diverse Immobilienobjekte und deren Preise, die sie aufgrund ihrer beständigen Recherche in den einschlägigen Web-Portalen alle kennt. Wir kommen an einem Gründerzeit-Altbau am Luegplatz vorbei, welcher vor fünf Jahren – als ich aus dem Annexionsgebiet ins West-Exil zog – in die engere Auswahl einer gemeinsamen Behausung geraten war.

„Die Wohnung ist total beschissen geschnitten und besteht nur aus Einbauschränken“, klärt mich meine Herzdame auf. „Und das für 1.400 kalt. Außerdem haben die da wohl mittlerweile noch einen Aufzug eingebaut – was meinst du, was du für eine Wohnung mit Aufzug zahlen musst!?“

Während der Hund an eine alte Eiche vor dem ansehnlichen Gebäude pisst, klingt mir ihr letzter Satz in den Ohren und im Geiste nach. „Was meinst du, was du für X oder Y zahlen musst!“ Die Selbstverständlichkeit erschreckt mich. Die Selbstverständlichkeit, in einer Welt zu leben, in der ALLES bezahlt werden muss, und in der jedes bißchen mehr Komfort und Annehmlichkeit selbstverständlich seinen PREIS hat. Dass diesen Preis nicht alle, genau genommen die wenigsten, zahlen können, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit, die jeder akzeptiert.

Für Insassen der Marktwirtschaft steht überhaupt nicht in Frage, dass menschliches Leben und seine Erhaltung auf diesem Planeten und in dieser Gesellschaft nur gewährleistet ist, nur aushaltbar gestaltet werden kann, wenn man GELD genug hat – Betonung auf „genug“.

Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, dass die ultima ratio der Konkurrenzgesellschaft das Geld und dessen Erwerb ist – und zwar sein Erwerb IN der Konkurrenzgesellschaft (die ebenfalls nicht in Frage gestellt wird) GEGEN die konkurrierenden Interessen der anderen „Marktteilnehmer“, die alle auch zum Zuge kommen wollen und müssen, um an den essentiellen Rohstoff dieser Welt heranzukommen.

Wir gehen weiter, und in meinem Geist entfaltet sich das gesamte Drama, das umfassende Elend einer Gesellschaft, die jedes ihrer Mitglieder von Beginn an auf Konkurrenz programmiert und damit den Überlebensimperativ der Spezies auf einen Zustand reduziert, der für Lebewesen vorgesehen ist, die kein entwickeltes Großhirn haben, die keine Sprache, keine Vorausplanung, keine industrielle Produktion kennen. Die einzige Abstraktionsleistung, die das menschliche Gehirn in der Konkurrenzgesellschaft leisten muss, ist der Transfer des animalischen Überlebensinstinktes auf die Ebene des Gelderwerbs, des Gegeneinanders und des Beutemachens.

Während wir uns der heimischen Altbausubstanz nähern, kommen wir an den Schaufenstern allerlei Banken und Sparkassen vorbei, die ebenfalls die letzte Wahrheit und höchsten Werte dieser Welt in dieselbe hinausposaunen: „Ideale Kapitalanlage für Investoren“ und „Renditestarkes Mehrfamilienhaus“ werden die Immobilien beworben, die die Finanzinstitute ihrer betuchteren Klientel anbieten. Auch hier – erst recht hier!! – ist klar, dass nur finanzielle Solvenz und der Erfolg im Konkurrenzkampf, der einem diese gewährt, zu einem anständigen Leben in Wohneigentum und vergleichsweiser Sicherheit und Unabhängigkeit verhilft.

Wir haben es in die mentale Gensubstanz eingebrannt: GELD gibt’s nur bei ERFOLG in der KONKURRENZ.

Über KONKURRENZ läßt sich debattieren; viele marktwirtschaftliche Rädchen im Betrieb empfinden sich gar nicht unbedingt als harte Frontkämpfer des allgegenwärtig beschworenen und tobenden „Wettbewerbs“, sondern betrachten ihre berufliche und finanzielle Selbstbehauptung als Resultat eines idealisierten persönlichen Durchsetzungswillens, unschlagbarer Talente oder einfach schlichten Glücks.

Und was ERFOLG bedeutet, darüber gehen erst recht die Ansichten auseinander. Für viele wird es die Tatsache sein, überhaupt in dieser Welt, quasi als Goldfisch im Haifischbecken, über die Runden zu kommen. Andere wollen selber der Haifisch sein und geben keine Ruhe, bis sie es auf dem einen (legalen) oder anderen (kriminellen) Wege – oder drittem (einer Mischung aus beiden) – dazu gebracht haben.

Doch GELD, Ziel und Zweck all der privaten, kollektiven und sonstigen Bestrebungen, der Fetisch, um den sich alles dreht – GELD (und die Jagd danach) wird nie in Frage gestellt. Für den marktwirtschaftlichen Sachverstand reicht es auch, wenn er über Geld weiß, dass er es eben braucht. Und zwar so viel wie möglich davon und am besten in ständigem, wachsenden Zufluss. DANACH richtet er seine Wirklichkeit ein, oder besser: danach ist die Welt eingerichtet, die er vorfindet und die er nie anzweifelt. Alles was er anzweifelt ist die Tatsache, dass er genügend „Biss“ hat, um sich in dieser Welt zu behaupten.

Von diesen Reflexionen in schweigsame Nachdenklichkeit versetzt, lenke ich meine Schritte zum Hauseingang hin.

Ein kurzer Abstecher in den Keller überzeugt mich, dass ich über eines froh sein kann: meine bescheidenen Fähigkeiten im verseuchten Haifischbecken der Realität haben immerhin dazu gereicht, mich bereits im siebten Lebensjahrzehnt aus der Reichweite der schlimmsten Raubfische zu bringen. Was nicht immer einfach war. Und das bißchen Gelderwerb, zu dem ich mich gezwungen sah (und sehe) reicht aus, um – spätestens mit dem im Dezember anstehenden Pflegebonus – den Weinkeller mal wieder aufzustocken.