Meine russlanddeutsche Kollegin kommt auf mich zu und bittet mich, für eine palliative Bewohnerin ihres Wohnbereiches einen USB-Stick mit beruhigenden Natur- , Wald- und Landschaftsbildern und -geräuschen zusammenzustellen. „Du weißt, das Internet und ich – wir zwei kommen nicht mehr zusammen…“, erzählt sie mir in ihrem sympathischen russischen Akzent. Der Stick ist für einen Spezialprojektor namens „Qwiek“, der eigens für Pflegeheime entwickelt wurde, sauteuer ist und der mit einem schwenkbaren Projektor Filme, Bilder usw. auch an Zimmerdecken werfen kann.
Als ich später im Büro sitze und bei YouTube geeignetes Material downloade, erscheint sie nach einer Weile ebenfalls dort. Sie freut sich, dass ich mich gleich an die Arbeit gemacht habe und setzt sich neben mich, so dass ich ihr zeigen kann, was ich zusammengestellt habe. Die Kollegin ist eine wunderbare, warmherzige Frau, die gut und gerne isst, vor allem aber eine super Köchin ist. Ihre Kochrunden und Waffeln-backen-Angebote sind legendär und erfüllen das Haus jedesmal mit leckersten Gerüchen.
Sie platzt stolz damit heraus, dass ihre Tochter gerade ihren Studienabschluss geschafft hat und erzählt mir von ihren (erwachsenen) Kindern. So stolz sie auf die Tochter ist, so große Sorgen bereitet ihr der 20jährige Sohn. Der hat es sich nämlich in den Kopf gesetzt, bei der Bundeswehr zu studieren. „Das finde ich so schlimm, so schlimm….“ – sie findet kaum Worte, beschreibt mir aber ausführlich, wie sie sich bei jedem Schritt der Bewerbung ihres Sohnes – von der ersten Vorstellung bis zu diversen Prüfungen, Eignungs- und Gesundheitstests – jedesmal inständig gewünscht hat, dass er durchfällt, abgelehnt wird, ausscheidet, jedenfalls diesen Berufsweg NICHT einschlägt.
Warum das für sie so ein Unding ist, sagt sie nicht explizit, und so spreche ich es aus: „Das ist für dich so schlimm, weil der dann in einer NATO-Armee gegen deine Heimat eingesetzt wird, richtig?“ – „Ja, genau“, seufzt sie, erleichtert über die Bestätigung. Jetzt sind die Dämme gebrochen und sie schüttet ihr Herz aus über ihre jetzige Gefühlslage inmitten des rassistischen russophoben Sturms, der durch Medien und Köpfe tobt. „Die verstehen nicht, dass der Krieg dort schon seit acht Jahren in Gange ist! Seit Jahren leben Menschen in Kellern, weil sie ständig bombardiert und beschossen werden! Was Putin macht ist, dass er den Krieg BEENDET!““
Ich erfahre, dass sie sehr genau weiß, wie das Leben in einem Kriegsgebiet ist; sie selber entkam mit 17 Jahren zusammen mit ihrer Mutter dem russisch-tschetschenischen Konflikt im Nordkaukasus gerade so eben. „Gestern hat einer zu mir gesagt, ich wäre Nazi, weil ich gesagt habe, das es Gründe für den Krieg Russlands in der Ukraine gibt. Nazi! In Russland war ich „Faschist“, wegen meines deutschen Namens, die ganze Schulzeit über… Jetzt bin ich Nazi, weil ich sage, dass Putin in der Ukraine die Nazis vertreibt?!“
Sie weiß sehr genau, sagt sie, dass es momentan nicht ratsam ist, allzu laut seine Meinung zu äußern, wenn man abweichende Ansichten hat. „Sowieso bin ich auch mit Politik so wie mit Internet: wir haben nicht viel zu tun miteinander“, fährst sie fort. „Ich sag nichts mehr zu Politik und Krieg. Ist besser so.“
Dann berichtet sie von den Töchtern ihres Schwagers, sieben und neun Jahre alt, die nicht mehr zur Schule gehen wollen, weil sie dort massiv gemobbt werden. „Was haben die Kinder damit zu tun? Nur weil sie Russen sind!?“. Wobei diese Kinder, so wie ihre eigenen, deutsche Staatsangehörige sind und Deutsch so fließend sprechen wie jeder hier Geborene. Ein Anwalt hätte jetzt dem Schwager geraten, mit der Schulleitung zu sprechen und gegebenenfalls Klage zu erheben. Für die Kinder ist der Schaden natürlich bereits passiert – das Kind ist sozusagen in den Brunnen des anti-russischen germanischen Wahns gefallen.
Ich merke, wie froh die Kollegin ist, wenigstens einen nicht NATO-fanatisierten Menschen unter den Mitarbeitern zu wissen; das Arbeitsklima ist sowieso schon belastet von einer allgegenwärtigen Vorsicht, seine Meinung frei zu äußern – durch die vergleichsweise vielen russischen und ukrainischen Mitarbeiter in der Einrichtung ist die Reizschwelle niedrig und die Empfindsamkeiten hoch.
Überdies wird schon der zarteste Versuch, Verständnis für die russische Seite zu äußern, niedergemacht von empörungsbereiten NATO-Medien-Konsumenten, für die „Putinversteher“ das schlimmste Schimpfwort ist, das sie derzeit im Köcher haben. Wir müssen beide wieder an die Arbeit und versichern uns gegenseitig unsere Hoffnung, dass die Специальная операция bald beendet werden kann und die Ukraine demilitarisiert und entnazifiziert ist