Geschichten, die das Leben schrieb: Letzte Dinge beim Mittagessen

Das aufs Leckerste von der Liebsten zubereitete Mittagsmahl steht dampfend auf dem Tisch der Terrasse der Ferienwohnung, und nach einem kurzen säkularem Tischgebet (“Hau rein!’) langen wir herzhaft zu.

Mitten beim Essen steigen Bilder, Einsichten und Visionen erdgeschichtlichen und kosmologischen Ausmaßes vor meinem inneren Auge auf: Bilder, die mit Nahrungsaufnahme und Arterhaltung zu tun haben. Plötzlich sehe ich den anfangs- und endlosen Ablauf allen Lebens vor mir, dessen einziges Bestreben die Erhaltung des Lebens ist – ‘Bestreben’ nicht als bewusster, sondern als natürlicher Vorgang, dessen unendliche Kette von Entstehen und Vergehen, von Geburt und Tod nur einen “Sinn’ hat: dass es weiter geht.

Alle menschliche Tätigkeit, jede Art gesellschaftlicher Reproduktion, dient – unterhalb oder jenseits der jeweiligen sozialen, kulturellen, moralischen Konzepte – ausschließlich dem Fortbestand, nicht unbedingt des einzelnen Individuums, aber der Spezies, der Gattung.

Und nicht nur die humanoide Spezies, die derzeit den dritten Planeten dominiert, ist dieser conditio sine qua non unterworfen, sondern, kosmologisch betrachtet, die gesamte Substanz des Universums, die gelegentlich – die entsprechenden günstigen Bedingungen vorausgesetzt – organisches Leben hervorbringt.

Sinn des Lebens? Zweck der Existenz? Gibt’s nicht, außer, dass sich das Leben fortsetzt.

Alles drüber hinaus ist Einbildung, konzeptioneller Tagtraum, Wunschvorstellung trostsuchender Verlorener in der Leere der Wirklichkeit.

Der Moment all dieser unerwarteten Offenbarungen muss wohl etwas länger gedauert haben, denn die Frau fragt mich: „Was ist los? Isst du nicht mehr?“

Nee, nee… ich ess‘ gleich weiter“, bringe ich hervor, innerlich noch irgendwie weit draußen, Millionen Lichtjahre vor dem Beginn des Universums, und mache mich wieder über meine Portion her.

Nach Beendigung der Mahlzeit unternehme ich einen Anlauf, mein Sinnieren zu erläutern, stoße aber bei meiner Herzdame auf wenig Neigung zu philosophischer Reflektion. Als ich versuche, meinen Gedankengang halbwegs geordnet zu kommunizieren, lande ich bei dem Satz „Es gibt weder einen Sinn des Lebens, noch einen Zweck menschlicher Gesellschaften außer dem, dass das Leben sich selbst erhalten will…“.

Ist mir egal!“, lautet die freundliche Antwort meiner bodenständigen und praktischen Frau. „Hauptsache, es gibt immer genug lecker zu essen!“

Nach einer kurzen Sekunde perplexen Staunens muß ich grinsen über diese kongeniale Zusammenfassung meiner visionären Thesen und sage zur Frau: „Wenn ich ein Helium-Luftballon bin, dann bist du mit Sicherheit der Stein, der unten an der Schnur ist und den Ballon am Wegfliegen hindert…“