Die „Tagesgruppe Demenz“ hat sich personell verändert: vier Teilnehmer, deren Demenz so weit fortgeschritten ist, dass sie nicht mehr in der Lage sind, dem Angebot zu folgen und die lediglich – mehr oder weniger vor sich hin dämmernd – teilnahmslos in ihren Pflegerollstühlen sitzen, sind ausgeschieden; die freien Plätze nehmen jetzt vier Damen mit leichter bis mittelschwerer Demenz ein. Diese Einstufung ist auch, laut Konzept der „Tagesgruppe“, die Voraussetzung für eine Teilnahme.
Damit hat sich die gesamte Atmosphäre der Gruppe verändert; die Stimmung ist deutlich aktiver und fröhlicher. In der neuen Zusammensetzung findet wieder mehr Interaktion zwischen den Teilnehmern statt und Spiele-, Rate-, Sing- und sonstige Runden finden bei der deutlichen Mehrheit der Anwesenden ein begeistertes und engagiertes Echo.
Beim Frühstück summt eine der neuen TeilnehmerInnen die Melodie „Im Frühtau zu Berge“ vor sich hin, zwei weitere fallen ein und schon haben wir den schönsten Morgengesang am Tisch. Der strahlende Sonnenschein dieses herrlichen Frühsommertages scheint die Gemüter empor zu heben, und die Runde beginnt von sich aus, sich über Wanderungen in Wald und Gebirgen zu unterhalten.
„Frau P., wann sind sie denn das letzte Mal gewandert?“, frage ich eine 92-Jährige, die ebenfalls erst seit kurzem in der Gruppe ist. „Ach, das ist lange her..“, sinniert sie. „Das war beim BDM!“
Ein paar Anwesende lachen und bestätigen, dass auch für sie die Wanderungen und Naturerlebnisse beim „Bund Deutscher Mädel“ mit schönen Erinnerungen verknüpft sind. Frau S. aus Westpreußen erinnert sich ebenfalls an viele Wanderungen und Abenteuer „beim Jungvolk“, denkt aber ebenso gerne an Wanderungen mit ihrem Vater zurück, bei denen dieser lauthals Lieder schmetternd mit ihr durch die Buchheide bei Stettin zog.
Flugs ist eine geeignete Playlist bei Spotify gefunden („Wanderlieder zum Mitsingen“) und in der Fantasie verwandelt sich die ganze Tagesgruppe in eine Wandergruppe auf dem Weg in die Berge. Die passende Bebilderung male ich derweil ans Flipchart, wobei ich Vorschläge aus der Runde aufgreife. „Ja, genau so einen Wanderhut hatte mein Vater!“ höre ich von Frau F., und „Das könnte ich mit meinem Opa sein!“ kommt aus einer anderen Ecke.
Wir singen, malen, erzählen und verbringen einen Vormittag in den Bergen, obwohl wir alle in einem eher kleinen Raum an vier Tischen sitzen. Besonders die kleinen Details auf dem Bild faszinieren meine Schützlinge: das rosa Kaninchen zum Beispiel, das natürlich viel schlauer ist als der Fuchs, der weiter oben auf die Gelegenhet wartet, dem Kaninchen das Fell über die Ohren zu ziehen. Oder die Ameisen, die von ihrem Hügel neben dem Kilometerstein zu der Bananenschale hin- und hermarschieren, um mit dem halb vergammelten Fund ein Festmahl zu feiern.
Auf Wunsch einer weiteren Teilnehmerin baue ich noch einen Mitbewohner in das Bild ein, der zwar nicht an der „Tagesgruppe“ teilnimmt, dafür aber wohnbereichsweit bekannt ist für seine dauernden Klagen, dass ihm so schwindlig sei. Dabei schwankt er in der Regel demonstrativ hin und her, wie ein Seemann bei Windstärke 10 und starkem Wellengang – ein hervorragender Anlaß, um einen kleinen musikalischen Abstecher in das weite Feld der Seemannslieder zu machen, so dass nun die ganze Runde „Junge, komm bald wieder“ intoniert.
Zwischendrin gibt’s noch ein paar Worträtsel zum Thema „Berge und Wandern“ als Gedächtnistraining – auf diese Weise kann ich auch überprüfen, wie es um die kognitiven und assoziativen Fähigkeiten meiner Truppe bestellt ist. Hier tut sich Frau F. hervor, auch eine von den Neuen: eine 90-Jährige, die ansonsten eher still ist und meistens gütig lächelt. Diese Übungen jedoch machen ihr Spaß, sie erfaßt die zu vervollständigenden Wörter sofort und platzt schon mit der richtigen Antwort heraus, während die anderen noch lesen. Frau F. ist räumlich ziemlich desorientiert; sie findet oft den Weg in ihr eigenes Zimmer nicht – umso erstaunlicher, dass sie auf dem Gebiet der Worterkennung und -Verknüpfung keinerlei Probleme hat.
Schon naht die Mittagszeit. Dem Thema des Vormittags entsprechend, ist uns allen jetzt eher nach einer Brotzeit mit Schinkenbroten und Radler als nach dem Kaiserschmarren mit Kompott, der heute auf dem Speiseplan steht. Aber der Hunger treibt‘s runter, schmecken tut‘s auch einigermaßen und die Höhenluft des Vormittags hat die Teilnehmer so müde gemacht, dass alle zufrieden und satt sich in ihre Zimmer zum verdienten Mittagsschlaf zurückziehen.