Geschichten aus dem Pflegeheim: Nimm einen Joint, mein Freund

“Tagesgruppe Demenz”: Beinahe jeden Morgen begrüßt mich Frau H., wenn sie wackeligen Schrittes in den Gruppenraum kommt, mit Ansagen wie “Du glaubst nicht, was heute wieder passiert ist!”. Anschließend berichtet sie von verstörenden Begebenheiten, die ihr widerfahren sind – Begebenheiten, die ihre Welt durcheinander bringen, diese noch ungewisser machen und in der Regel etwas mit gegen sie gerichteten Aktionen zu tun haben: übergriffige Handlungen von Pflegern oder Putzkräften, Umzug in ein anders Zimmer, Kündigung ihres Heimaufenthaltes, russische Invasionen, vor allem aber Diebstähle ihrer Habseligkeiten, besonders ihrer Zigaretten.

Da für Frau H. Erinnerungen, Träume und Gegenwart ununterscheidbar miteinander verschmolzen sind, sie zudem noch zunehmend Wortfindungsschwierigkeiten hat, braucht es oft eine ganze Weile, bis wir beim Kern des Vorfalles angelangt sind und sie sich soweit beruhigt hat, dass sie frühstücken kann.

Heute scheint ihr Gemütszustand aus einer Mischung von Empörung und Selbstzufriedenheit zu bestehen. Sie erzählt: “Ich bin doch nicht doof! Die halten mich für verrückt, aber ich lass mich nicht rumkommandieren! Der Kerl heute morgen hat mir zweimal diese Farbtöpfchen gebracht, aber ich will die nicht. Der kann die selbst behalten! Dem hab ich die Meinung gesagt!”.

Sie schwelgt noch einige Sätze lang in dem Gefühl, es “dem Kerl” so richtig gegeben zu haben, während ich nachsinne, was sie meinen könnte. Schließlich frage ich nach, von was für Farbtöpfchen sie hier redet.

Na, die kleinen Farbtöpfchen, die wir immer kriegen! Jeden Morgen und jeden Mittag!”

Gemeint sind offenbar die winzigen roten, blauen oder gelben Plastikbecherchen, in denen die Bewohner ihre Medikamente verabreicht bekommen. Frau H. hat immer wieder Phasen, in denen sie die Einnahme von Medikament rigoros ablehnt. Sie vermutet, dass “diese Pillen” sowieso nicht wirken oder, noch schlimmer, ihr schaden.

Oft fragt sie die Pflegekräfte, wozu sie die Medikamente nehmen soll oder was da drin wäre. Als Antwort erhält sie meist Sprüche wie “Die sind für Ihre Gesundheit” oder “Die MÜSSEN Sie nehmen, Frau H., das hat der Arzt verordnet”. Andere Pflegekräfte kommen auch schon mal mit dem Medikamententablett herein und verkünden fröhlich: “So, hier kommt die Medizin für glatte Haut und schöne Fingernägel!”, wohl in der Annahme – besser: Anmaßung – dass es bei dementen Menschen sowieso egal ist, ob man ihnen die Wahrheit über ihre Medikation sagt oder nicht bzw. sie besser gleich belügt und die Pillen als Nahrungsergänzung oder Schönheitsmittel “verkauft”.

Die Medikation, konkret: ihre Verabreichung und Einnahme, ist ein Dauerthema speziell bei dementen Bewohnern. Für nicht wenige ist das Schlucken der mitunter ziemlich großen Tabletten ein Vorgang, der ihnen schon haptisch und physiologisch schwerfällt und zuwider ist. Sie empfinden die Pillen als Fremdkörper im Mund, spucken sie wieder aus, kauen drauf rum oder drehen den Kopf weg um die Einnahme zu vermeiden. Oft werden dann die Tabletten im Mörser pulverisiert, um sie den Leuten unter den Joghurt oder den Milchbrei gemischt zu verabreichen – eine Maßnahme, die umstritten ist, weil sie das Prinzip von Freiheit und Freiwilligkeit außer Kraft setzt und den Bewohnern die Medikamente ohne ihr Wissen unterjubelt.

Frau H. liegt möglicherweise gar nicht mal falsch mit ihrer Befürchtung, dass “die Pillen” ihr nicht gut tun bzw. nichts bewirken würden, zumal wenn es sich um Psychopharmaka handelt. Sie zieht jedenfalls noch munter vom Leder gegen all die “Idioten”, die versuchen, sie zu irgendwelchen Sachen zu bewegen, die sie nicht möchte: “Die können mich mal! Kennst mich ja, ich nehm’ kein Blatt vor den Mund… Und wenn die mich bis nach Amerika verschleppen, ist mir egal. Ich hab die Russen erlebt; ich lass mich doch hier nicht zum Affen machen…” usw.

Da ich selber auch nicht weiß, welche Medikamente sie warum erhält, rate ich ihr, beim nächsten Arztbesuch (die Ärztin kommt einmal pro Woche in die Pflegeeinrichtung) mal nachzufragen, was sie bekommt und wofür oder wogegen das ist.

All diese Fragen erörtern wir bei einer Zigarette auf dem Balkon. Nach und nach entspannt sich Frau H., ihre Laune bessert sich zusehends und wir kehren zurück in den Gruppenraum, wo der Rest der Truppe beim Frühstück sitzt.

Frau H.s Stimmung wird im Laufe des Vormittags immer besser und fröhlicher und sie beginnt, ein bißchen Schabernack mit ihrer Sitznachbarin und zur Unterhaltung der Gruppe zu treiben. Die Sitznachbarin bekommt Frau H.s Schalk im Nacken als erste zu spüren. Frau H. rollt eine Papierserviette zusammen, steckt den Kern einer Pflaume oben drauf, sodass das Ganze in bißchen wie ein Lilli aussieht, und reicht es der Nachbarin mit den Worten: “Hier, Oma, probier mal!

Die arglose Angesprochene nimmt das Gebilde in die Hände und auch prompt den Pflaumenkern in den Mund. Das allerdings könnte schiefgehen, wenn sie diesen verschlucken sollte. Da meine heutige Tagesgruppenpartnerin und ich aufgepasst haben, können wir ein Malheur verhindern, indem wir schnell einschreiten und die Reingelegte den Kern ausspucken lassen.

Damit ist Frau H.s Neigung zu Quatsch und Entertainment aber noch nicht zu Ende. Sie greift sich erneut die Papierserviette und formt sie unter unserer erstaunten bis ungläubigen Blicken zu einem veritablen Joint, den sie mit der entsprechender Gestik und Handhabung zum Munde führt und tiefes Inhalieren simuliert.

Meine TG-Partnerin kreischt vor Begeisterung, ich selber kann mir das Lachen nicht verkneifen und frage mich, ob diese 84-jährige Frau eventuell eine alte Kifferin ist…? Vielleicht weiß sie es aber selber nicht (mehr), oder es sollte in ihrer Vorstellung nur eine Zigarette darstellen.

So vergeht wieder ein Vormittag in unserer Gruppe wie im Fluge und kaum ist der falsche Joint aufgeraucht, ist es schon wieder Zeit, den Raum für das Mittagessen vorzubereiten. Denn cannabis-induzierter Fress-Flash oder nicht: Hunger haben (fast) immer (fast) alle um Punkt zwölf Uhr.