Frau H. ist eine resolute, sehr direkte Praktikerin des Lebens, der man in ihrem früheren Leben – also vor ihrer dementiellen Veränderung – sicher nicht so leicht etwas vormachen konnte. Auch heute noch nimmt sie kein Blatt vor den Mund, beschwert sich über Dinge, die ihrer Meinung nach falsch laufen und ist darauf bedacht, nicht “wie ein Depp” behandelt zu werden. Ihr Problem ist, dass sie in den letzten Wochen und Monaten zunehmend die Ebenen von Traum- und Wachrealität verwechselt. Nicht selten kommt es auch vor, dass Fragmente ihrer Erinnerung plötzlich und unvermittelt in ihr Alltagserleben eindringen und für sie ganz real sind. Fast jeden Tag erlebt sie auf diese Weise für sie unerklärliche, meist unliebsame und ungewollte Überraschungen und Erschütterungen ihrer zunehmend auseinander fallenden Welt.
Da sie eine der beiden rauchenden Bewohner der Einrichtung ist, sitze ich gelegentlich mit ihr auf dem Balkon der “Tagesgruppe Demenz” und lege eine Zigarettenpause ein. Eins ihrer Dauerthemen ist der Besuch ihrer Kinder im Heim – kommen sie oder nicht? Wann kommen sie? Wann waren sie zuletzt da usw.
Ich frage sie, ob jetzt am Wochenende ihr Sohn Heinz zu Besuch kommt, aber heute hat sie eine neue Variante der Geschichte parat:
“Ach, die sollen mich doch in Ruhe lassen! Ich hab alles getan in meinem Leben, ich hab die großgezogen und jetzt will ich nur meine Ruhe haben! Außerdem, wenn die kommen, geht das Gequatsche wieder los… Die Grete, die Mutter vom Heinz, die redet nur dummes Zeug…”
Ich bin erst mal verdutzt und hake nach: “Moment mal, Frau H., SIE sind doch die Mutter vom Heinz…”
Ich erhalte einen verschwörerischen Blick von ihr und werde dann aufgeklärt: “NEIN! Das wird ja nur behauptet! Kennst du die Grete? Die ist seine Mutter, aber das wußte keiner! Das lag an dem Vater, weil der starb… und ich muß mir jetzt das dumme Gerede anhören. Nee, ich will meine Ruhe haben!”
Bevor die Konfusion in ihrem Geist zu noch merkwürdigeren Wendungen in ihrer Version der Familiengeschichte führt, lenke ich ihre Aufmerksamkeit auf den Aschenbecher und ihren Zigarettenvorrat, um ein bißchen Luft herauszunehmen aus dem Tempo, mit dem sie sich im Labyrinth ihrer immer unzuverlässigeren Erinnerungen verläuft.
Das funktioniert gut, und entspannt beschließen wir unsere Rauchpause und kehren zurück in die Tagesgruppe.