Eine Parabel

In der einzigen Kantine, die alle zum Essen aufsuchen müssen, bereitet ein Koch feinste Speisen zu: erlesene Menüs mit 5 und mehr Gängen, schmackhafte und gesunde Kost wie auch üppige und herzhafte Leckereien aller Art. Da bleiben keine Wünsche offen.

Einziges Problem: diese kulinarische Rundumversorgung ist nur einem kleinen Gästekreis zugänglich.

Die große Anzahl der Esser wird mit sattmachenden, aber billig produziertem Zeug abgefüttert, das weder Mensch noch Tier noch Natur bekommt. Aber sie können aus einem Angebot wählen, das vom Umfang her so üppig aussieht wie das der privilegierten Speisenden.

Eine weitere nicht unbeträchtliche Anzahl erhält Reste, Abfälle, gelegentliche Nahrungsmittelspenden, die ein unmittelbares Verhungern verhindern.

Dann gibt es noch – saisonal variierend – einen ordentlichen Prozentsatz an Leuten, die zwar gerne essen würden, aber gar nicht erst in die Kantine gelassen werden. Die müssen leider verhungern.

Der Koch, angesprochen auf die ziemliche ungleiche Versorgung der Gäste, zuckt die Achseln, murmelt etwas von “die abgewiesenen Gäste können sich ja mehr anstrengen, an die Tafel mit den Sterne-Menüs zu kommen!” oder “Ja, unschön, aber so ist leider nun mal die Natur des Restaurantkunden…” und widmet sich wieder seinen Töpfen und Pfannen.

Nun begab es sich, dass ein Teil der Hungrigen beschloss, fortan auf die “Dienste” des Kochs zu verzichten, einen eigenen Koch anzuheuern und selbst eine Kantine aufzumachen.

Das klappte mal gut, mal weniger gut; es gab keine solch überwältigende Auswahl wie in der Kantine des Sternekochs, aber alle hatten zu essen und alle wurden satt. Die Speisekarte wurde gemeinsam erstellt, musste aber mit weniger Gerichten zurechtkommen, denn der Sternekoch der anderen Kantine – bis zur Weißglut erbost über die neue Konkurrenz – hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, der neuen Kantine und ihren Gästen das Leben so schwer wie möglich zu machen, in dem er dafür sorgte, dass die Neuen so wenig wie möglich Lebensmittel, Zutaten und Material zur Verfügung hatten. Sein erklärtes Ziel: alle Gäste sollten wieder in SEINER Kantine speisen!

Nach einigen Jahrzehnten war er am Ziel: die neue Kantine musste schließen, denn die Gäste, die einmal stolz darauf waren, dass in ihrer eigenen Kantine jeder satt wurde, waren in ihrer Unzufriedenheit über die einfachen Teller und Speiseangebote so ärgerlich mit ihrem Koch, dass sie nach dem alten Koch verlangten und erlesene Gerichte von edlen Porzellantellern zu speisen wünschten – obwohl sie wissen mussten (leider aber nicht wissen wollten), dass in der alten Kantine dieses Privileg nur wenigen vorbehalten ist und die Mehrheit eher vom Küchenassistenten Schmalhans bedient wird.

Seitdem gehen wieder alle in die alte Kantine, in der die Gerichte für die Wenigen immer üppiger werden, die Suppe für die Mehrheit immer dünner und weniger nahrhaft, und die Anzahl der Verhungernden stetig steigt.

Diesmal hat der Koch der grassierenden Unzufriedenheit aber vorgebeugt. “Ihr seht ja”, sagt er zu den Gästen, “dass das nichts wird mit eurem alternativen Koch! Der will nämlich auch nur Chef in der Küche sein und euch die Suppe einbrocken! Und ihr wisst ja wohl noch, wie DIE geschmeckt hat! Eine andere Kantine ist wider die Essnatur, und das bleibt für alle Zeiten so.”

Und weil fast alle Gäste dies glaubten – und die paar, die es nicht glauben wollten, ebenfalls auf das Essen der einzigen Kantine angewiesen waren – gaben alle Restaurantkritiker ihm recht.

Nur ein alter Feinschmecker, dessen Restaurantkritiken bereits vor 150 Jahren erschienen und u.a. auch den Koch der neuen Kantine zu seinem reduzierten, aber für alle sättigenden Speiseangebot inspiriert hatten, wiegte bedenklich sein bärtiges Haupt und sprach: “Kommunismus heißt nicht, den KOCH auszutauschen, sondern SELBER die Küche zu übernehmen. Wann kapiert ihr das endlich?”