Mal wieder ein paar Bilder aus meiner kunstgeragogischen Tätigkeit in der Pflegeeinrichtung – diesmal die beiden jeweiligen Kontrapunkte des Teilnehmerkreises, die stark demente Frau S. und die orientierte und künstlerisch ambitionierteste Teilnehmerin, Frau K.
Frau S. beherrscht je nach Tagesform die Handhabung von so vielen unterschiedlichen Dingen – Papier, Pinsel, Wasser, Farbkästen – nur gerade so und muss immer wieder beobachtet, ermuntert und angeleitet werden. Tut man das nicht, arbeitet sie beinahe mechanisch (offenbar aber mit einigem Vergnügen) vor sich hin, mit einer einzigen Farbe, an einer Stelle des Papiers, bis die Farbe verbraucht, das Wasser getrocknet und das Papier durchgescheuert ist.
Schon der Vorgang des Wiedereintauchens des Pinsels ins Wasser und Neuaufnahme der Farbe überfordert sie in einem Maße, das sich Nicht-Demente kaum vorstellen können. Irgendwann hört sie dann einfach auf und sitzt nur noch da.
Geht man Frau S. aber zur Hand und erinnert sie an die einzelnen Schritte des Malvorgangs, macht sie gerne mit und scheint große Freude und Befriedigung zu ziehen aus dem Spiel der Farben, deren Verläufen auf dem nassen Papier und der Tatsache, dass SIE diese Vorgänge auslöst. Ihre Aquarelle sind vielfältig interpretierńbar, weil sie völlig gegenstandslos und ungeplant sind. Die Dinge und Formen, die man in ihnen sehen kann, geben die Anwesenden und ich selbst in die Runde, wenn wir – meistens am Schluß des Angebotes – gemeinsam die jeweiligen Bilder anschauen und besprechen. Frau S. sitzt dabei, hört sich das alles staunend an, nickt auch manchmal und sagt „Ja“, aber es scheint, als wüsste sie schon gar nicht mehr, dass sie es war, die diese Bilder gemalt hat.
Anders dagegen Frau K., die Dienstälteste und anerkannte Chefkünstlerin der Gruppe. Mit den Jahren haben ihre Ansprüche an sich selbst und an ihre Bilder sich vom anfänglichen „Ich kann nicht malen“ entwickelt zu einer gezielten Suche nach Motiven und einer immer sichereren farbsensibleren Strichführung.
Frau K. zeichnet ausschließlich gegenständlich und benötigt immer ein Motiv, eine Vorlage, irgendeinen Anhaltspunkt für ihre in der Regel mit Ölpastellkreiden gemalten Werke. Ihre Lieblingsmotive sind Landschaften und Szenen aus ihrer Westpommerschen Heimat, vorzugsweise Ostsee und Stettin. Sie arbeitet genau, geduldig und überlegt zwischendurch beispielsweise immer wieder, welche Farben sie wie einsetzt und ob die von ihr gewünschte Wirkung vielleicht eher durch einen Materialmix erzielt werden könnte als mit der strikten Begrenzung auf ein Werkzeug (Ölpastellkreiden in ihrem Fall).
Wenn sich ihre jeweiligen Projekte dem Ende nähern, erfaßt sie oft eine gewisse Ungeduld, fertig zu werden; zu einem guten Teil auch, um das Bild ihrer Familie zu zeigen, in der sie mittlerweile dank ihrer Bilder einen beträchtlichen Zugewinn an Respekt und Anerkennung erfährt. „Diesmal bin ich wirklich selber ganz begeistert von dem Bild!“, verkündet sie mir (was fast wörtlich ihre Standardbemerkung nach jedem vollendeten Werk ist. Schnell ist das Bild gerahmt, und als ich sie frage, ob wir es im Gruppenraum belassen sollen oder ob sie es mit auf ihr Zimmer nehmen will, ist die Antwort: „Das nehm ich mit, meine Tochter kommt morgen, der will ich das zeigen!“
So kommen rein kunstgeragogisch alle auf ihre Kosten, die dementiell veränderten wie die mental fitten Bewohner, dazu kommen mittlerweile an jedem Montag (dem Tag der Mal- und Kreativrunde) vier bis sechs weitere Bewohner, die selber sagen, dass sie zum Angebot kommen wegen der kreativen Atmosphäre, der populären Musik – und um den anderen beim Malen und Zeichnen zuzuschauen. Inzwischen habe ich der „Ich kann nicht malen und komme nur wegen der Atmosphäre“-Fraktion aber ein listiges Schnippchen geschlagen, indem ich sie einspanne als Zuarbeiter für unsere Collagen-Projekte. Zeitschriften durchblättern, geeignete Bilder finden, vielleicht auch mal etwas ausschneiden (sofern das haptisch geht) – all das ist extrem niedrigschwellig und bringt keinen in die Verlegenheit, etwas gegen seine Absicht bzw. etwas zu machen, von dem er oder sie überzeugt ist, es nicht zu können.
Unterm Strich sind die Montagnachmittage äußerst gemütliche, kommunikative und kreative Treffen, die schon aufgrund ihrer Eigendynamik und der Beliebtheit bei meinen betagten Gästen regelmäßig massiv überzogen werden – obwohl das Angebot das einzige der Einrichtung ist, das statt um 15:30 Uhr schon um 15:00 Uhr beginnt.
Sehr musikalisch geht es außerdem zu, da ich aus eigener Erfahrung und Vorliebe weiß, wie als angenehm empfundene Musik den Zeichenvorgang beflügelt und inspiriert. In der Regel hört man mindestens die Hälfte der Teilnehmer laut mitsingen zu all den alten Schlagern aus den Jahrzehnten 1940-70, die wir jedesmal hören. Und so heißt es dann am Ende regelmäßig: „Dreh dich noch einmal um, eh wir auseinandergehen….“ (Rudi Schuricke, 1952) und alle freuen sich aufs nächste Mal, mich eingeschlossen.