



Die montägliche Mal- und Kreativrunde scheint immer populärer zu werden. Jedenfalls kommen mittlerweile so viele Bewohner, dass ich gar nicht für alle einen richtigen Arbeitsplatz habe. Das macht aber nichts, weil etwa ein Drittel der Leute nur kommen, um dabei zu sein – nicht etwa, um zu malen, zu zeichnen oder zu basteln. Sagen sie jedenfalls vorher – oft lassen sie sich dann doch von der Atmosphäre anstecken und beginnen selber, mit Farben, Stiften, Pinseln und Papier zu experimentieren.
Eine dieser Teilnehmerinnen, die von der Stimmung der Gruppe angezogen werden und einfach dabei sein wollen, ist die umtriebige Frau T. Sie läuft fast den ganzen Tag in der Einrichtung hin und her, wandert von einem Stockwerk ins nächste, von einem Wohnbereich zum anderem, scheinbar immer auf der Suche nach Anregung und Abwechslung. Sie ist in der Anfangsphase der Demenz, räumlich einigermaßen orientiert, zeitlich aber gewaltig desorientiert – und zwar sowohl was die äußere Normalzeit betrifft wie die innere Zeitwahrnehmung, die mit Erinnerungen, Zuordnung der einzelnen Lebensabschnitte usw. zu tun hat.
„Na, Frau T., wollen Sie auch mal ein bißchen was malen?“ frage ich. Sie muß lachen. „Ich? Nee, das ist nun wirklich überhaupt nichts für mich! Das konnte ich noch nie…“ Ich dränge sie nicht weiter und biete ihr mit den Worten „Dann setzen Sie sich doch einfach zu uns und gucken ein bißchen, was die anderen so machen…“ einen freien Platz an. Das gefällt ihr, und schon sitzt sie neben Frau S., einer stark dementen, aber stets freundlichen Teilnehmerin.
Frau S. hat seit Jahr und Tag Gefallen am Aquarellieren gefunden und erfreut sich am Spiel der Farben, wenn diese auf dem Papier im Wasser verlaufen, sich verformen und immer neue Muster und Formen bilden. Ich muss ihr jedes Mal aufs Neue erklären, um was es eigentlich geht, bzw. was sie tun muss, damit die Farben so schön auf dem Papier leuchten und sich miteinander vermischen, verwirbeln, überlagern und verformen – aber dann legt sie los. Das heißt, sie malt, solange ihr von der Demenz durchlöcherte Geist sich an das eben Gesagte erinnert und die zugehörigen haptischen Vorgänge nicht vergißt. Überlässt man sie sich selbst, dauert dieser Zustand etwa 5 – 10 Minuten, danach erlischt ihr ursprünglicher Impetus, sie wird immer langsamer und kommt schließlich zum Stillstand.
Deswegen gehe ich normalerweise immer mal wieder zu ihr und sorge für neuen Schwung, ich gebe sozusagen der Schaukel ihrer inneren Aktivität einen neuen Stoß. Heute aber sitzt Frau T. neben ihr und das erweist sich als geradezu segensreich. Frau T. nämlich schaut fasziniert zu, wie die Farben auf dem Papierbogen von Frau S. in buntem Spiel im Wasser verlaufen und sich zu allerlei interessanten Effekten formen. Ohne weiteres Nachdenken greift sie sich einen Pinsel und fängt an, Farben auf das Blatt aufzutragen.
Frau S. ist grundsätzlich jenseits von Fragen wie „Dein und Mein“ und hat überhaupt nichts dagegen, dass ihr Bild von Frau T. erweitert wird. Im Gegenteil, sie scheint die Kooperation zu genießen und schaut ihrerseits gebannt zu, was da auf dem Papier entsteht. Es entstehen zwei oder drei Aquarelle, deren schönstes – „Blumenwiese“ haben wir es genannt – ich hier abbilde. Das blau-grüne Aquarell ist das, was Frau S. gemalt hat, als Frau T. sich neben sie setzte und das die Faszination auslöste, die Frau T. letztlich zum eigenen Eingreifen in den kreativen Prozess inspirierte. Es trägt den Titel „Nordlichter in Norwegen“.
Solche Momente sind die zufriedenstellendsten bei meiner Arbeit: wenn die künstlerische und kreative Tätigkeit von alleine die Leute ansteckt und ins Gestalten bringt. Fast jeder Teilnehmer meiner Angebote kommt mir am Anfang mit „Ich kann nicht malen“, „Das ist nichts für mich“ und ähnlichem. Wer aber einmal merkt, dass es nicht ums „Können“ und erst recht nicht ums Ergebnis geht, wer all die verheerenden und selbstherabsetzenden Urteile vergessen kann, die ihm im Kunstunterricht und durch Vergleich mit „richtigen Künstlern“ einkonditioniert wurden – der kann sich der Freude an der Kreativität aussetzen und widmen, ohne wissen zu müssen, was das ist und wie das geht (Anmerkung: ich will hier keinem Beuys‘schem „Jeder ist ein Künstler“-Dilettantentum das Wort reden; selbstverständlich ist bildende Kunst zu einem guten Teil auch Handwerk, Übung, Technik und Erfahrung – aber in der kunstgeragogischen Arbeit vor allem mit dementen Menschen sind das eher hemmende als förderliche Konzepte).
Auch Frau K., die Patriarchin der Malgruppe, hatte vor sieben Jahren so angefangen . „Ich kann nicht malen!“ war ihr Einstiegskommentar, als wir mit der Malrunde begannen. Jetzt wird sie einrichtungsweit und darüber hinaus als Künstlerin eigener Kategorie respektiert. Ihre künstlerische Aktivität ist ihr zu einer wichtigen, wenn nicht wesentlichen, Stütze ihres ansonsten durch alters- und pflegeheimbedingte Beschwerlichkeiten unerquicklichen Lebens geworden. Sie ist meist schon eine Stunde vor Beginn des Angebots da und bleibt immer bis zum Schluß.
Seit drei Wochen arbeitet sie an einem neuen Bild, eine Ansicht von Zingst am Darß, aus ihrer nordostdeutschen Heimat. Als ich sie nach der (sehr langen, fast zwei Stunden dauernden) Runde in ihrem Rollstuhl auf den Wohnbereich bringe, erzählt sie mir, wie viel ihr die Bilder und die Arbeit daran bedeuten: „Jedesmal, wenn ich das Bild anschaue, je weiter ich vorankomme, umso besser gefällt es mir! Ich bin jetzt richtig erschöpft, das war richtig anstrengend, aber das macht mir solch eine Freude, das können Sie sich gar nicht vorstellen….“
An dieser Stelle muss ich sie unterbrechen: „Das kann ich mir sehr gut vorstellen, Frau K.“, antworte ich ihr. „Was meinen Sie warum ich das hier mache? Hauptsächlich, weil’s mir genauso viel Freude macht und weil ich dieses Gefühl anderen vermitteln möchte…“
Das leuchtet ihr ein, und wir treten gleich wieder in Verhandlungen über den Anteil ein, den ich bei einem Verkauf ihrer Bilder beanspruchen kann; ein Dauerspaß, den wir uns immer wieder machen.
Wenn ich alle in ihre Wohnbereich gebracht habe und unten die Sachen wegräume, kann ich die Schlager-, Volksmusik- und Wanderlieder-Playlist ausschalten, die sonst läuft (und die, wie ich vermute, einer der Gründe für die Popularität des Angebotes ist). Eben noch haben alle aus vollen Kehlen zu Heino „Ja ja so blau, blau, blau ist der Enzian“ geschmettert, jetzt kann ich endlich „meine Musik“ hören. Die meisten warten in den Wohnbereichen aufs Abendessen und der Angebotsraum ist fast leer. Eine Beatles-Playlist läuft, und gerade röhren Lennon und McCartney „One After 909“.
Außer mir sind noch Frau L., eine relative neue Bewohnerin unseres Wohnbereiches da, und die 93jährige Frau B. vom „ServiceWohnen“, dem Bereich einzelner Apartments oberhalb der Pflegeeinrichtung. Frau L., Jahrgang 1941, lässt ihren Rollator stehen und fängt an zu twisten und zu rocken und erklärt begeistert, dass das die Musik ihrer Jugend in den 1950er Jahren sei. Angesteckt vom Groove und von den Moves stellt jetzt auch Frau B. den Rollator auf Seite, greift sich zwei Stühle und stellt diese mit den Rückenlehnen links und rechts von sich hin. Dann beginnt auch sie, indem sie sich mit den Händen an den Stuhllehnen festhält, loszurocken. „So mach ich das immer oben, wenn ich gute Musik im Radio höre!“ teilt sie uns strahlend mit. Ich kann natürlich auch nicht an mich halten und wir tanzen zu dritt eine Runde zu dem Lennon/McCartney Frühwerk aus den späten 1950ern.
Etwas später, als ich mit Aufräumen fast fertig bin, taucht Frau L. nochmal auf und spricht mich an. „Also, ich wollte Ihnen noch sagen, wie gern ich zu ihren Angeboten komme! Sie machen das so gut, man kann mit Ihnen über alles reden – also für mich sind Sie wie Rosenblätter im Schnee! Ich weiß nicht, ob sie das verstehen, aber das empfinde ich so.“
Ich bedanke mich für das Lob, das schöne Gedankenbild von den Rosenblättern im Schnee und sage Frau L., dass ich mich sehr freue, wenn ihr meine Angebote so gut gefallen. Wir verabschieden uns und ich fahre nach Hause mit der Idee, demnächst mal sowas wie ein „Rock‘n‘Roll-Café“ anzubieten. Die Generation, die in den 1950ern musikalisch sozialisiert wurde, ist nämlich nicht automatisch nur für Schlager und Volksmusik zu haben, wie ich soeben feststellen konnte, sondern hat damals durchaus auch schon mal zu Bill Haley, Jerry Lee Lewis, Little Richard und anderen abgerockt.
Das, kombiniert mit z.B. Live Action Painting, und schon habe ich wieder ein kunstgeragogisches Angebot, für das ich vermutlich sogar Sponsoren finden könnte.