Als ich morgens um 7:30 Uhr zur Arbeit erscheine, rollt mir im Gang auf dem Wohnbereich Herr T. entgegen, einer der auffälligsten und profiliertesten Bewohner der Einrichtung. Er ist nicht nur im Bewohner-Beirat und ein unermüdlicher Kämpfer für die Interessen der Bewohner (und seines eigenen an gutem Essen), sondern ein ausgesprochen artikulationsfähiger Mann, der kein Batt vor den Mund zu nehmen pflegt und mit seinem teilweise ätzenden, aber nie bösartigen Frozzeleien Mitbewohner und Mitarbeiter regelmäßig zum Lachen bringt.
In meinem Comicprojekt vom vorletzten Jahr sorgte er fast im Alleingang für den Fortgang des Storyboards und der Dialoge unter den zu Superhelden mutierten Bewohnern, denen der Comic („Superhelden mit Rollator“) ein Denkmal setzt. Er selbst wählte für sich die Superhelden-Identität des „Gewaltigen T.-Man“, eine Pflegeheim-Ausgabe des grünen Giganten HULK, der mit allen Ungerechtigkeiten und Mängeln in der Einrichtung aufräumt.
Herr T. ist seit einigen Wochen (wenn nicht Monaten) nicht mehr so präsent und wahrnehmbar wie zuvor; selbst im „Frühschoppen“, zu dessen „Präsidenten“ wir ihn ernannt haben, tauchte er beim letzten Mal nur mit Verspätung und ungewohnt diskussionsunlustig auf. Heute ist er zwar frisch geduscht, wirkt aber blass und aufgedunsen. Außerdem ist er nur im T-Shirt über der Trainingshose unterwegs, auch seine Brille fehlt. Ich frage ihn, was los ist und wo seine Brille ist. Seine Antwort ist ein längerer Satz, den ich kaum verstehen kann, weil seine Stimme sehr verwaschen klingt. Ich entnehme ihm aber die Information, dass er seine Brille „verlegt hat“.
Wir verabschieden uns fürs Erste und Herr T. rollt weiter Richtung Speisesaal. Zwei Stunden später – ich kümmere mich gerade um die größtenteils demente Klientel der „Tagesgruppe“ – erscheint plötzlich die Wohnbereichsleiterin: „Du, der Herr T. ist gerade gestorben!“. Herr T. ist nach dem Frühstück in sein Zimmer zurückgekehrt, ließ sich von einem Pfleger ins Bett helfen (Herr T. ist ein großer, massiger 150-KG-Mann) und zudecken. Er sagte „Ich bin müde, ich will noch ein bißchen schlafen…“. Dann rang er plötzlich nach Luft, verdrehte die Augen und starb.
Ganz überraschend kommt sein Tod nicht, denn er hatte erhebliche gesundheitliche Beschwerden; angefangen bei seiner schweren Diabetes bis zu Wassereinlagerungen am ganzen Körper und einiges mehr. Typisch für Herrn T., bestimmte er per Patientenverfügung und klarer Ansage an alle, die es angeht, dass er keine Reanimation, keine lebensverlängernden Maßnahmen und keine Krankenhausaufenthalte wünscht, wenn sein Gesundheitszustand sich gefährlich verschlechtert.
„Ich bin jetzt 80 Jahre alt geworden, mir reicht´s. Ich hab vom Leben nichts mehr zu erwarten“, konstatierte er mir gegenüber vor einiger Zeit.
Herr T. und ich hatten eine spezielle Verbindung, die sich in der Hauptsache aus unserem gegenseitigen Verständnis für den Humor des anderen speiste. Außerdem noch aus einer Art gegenseitigem Respekt für unsere völlig unterschiedlichen, aber offen(siv) vertretenen Ansichten über Gott und die Welt – obwohl er mich unter verschärftem Kommunismusverdacht hatte und gerne über politische Themen stritt. Zusätzlich verband uns die Liebe zum Fußball. Kurzum: Herr T. war einer der paar Personen im Heim, die aus der Menge herausragen und durch Auftreten, Wortmeldungen und ihre ganze Art so etwas wie das Salz in der Suppe in der Bewohnerschaft sind.
Die „Abschiedsritual“ genannte Zusammenkunft von Angehörigen, Mitbewohnern und Pflegekräften an seinem Totenbett ist voll wie noch keine bisher. Obwohl die beiden Söhne von Herrn T. nicht dabei sind (einer wohnt zu weit weg, der andere hatte sich kurz zuvor noch einmal von ihm verabschiedet), sind viele Bewohner und reichlich Kollegen gekommen. Ich halte mich mehr oder weniger an den für solche Gelegenheiten vorgegebenen Ablauf und dessen Wording, improvisiere aber diesmal mehr als sonst, weil es nun mal Herr T. Ist, der hier tot vor uns liegt. Ich erzähle ein bißchen über meine Erlebnisse mit ihm, auch von den anderen hat fast jeder etwas beizutragen. Ein spanischer Mitbewohner, seit einem Schlaganfall nicht mehr des Sprechens mächtig, bricht immer wieder in Tränen aus und erinnert sich und uns mit Gesten daran, dass Herr T. – obwohl selber im Rollstuhl – ihm immer geholfen habe, ihn geschoben habe, Fahrstuhltüren aufgehalten habe usw. Man spürt, wie sehr er Herrn T. mochte.
Nach einem sehr schönen Gedicht und einem alten gälischen Segen („Der Friede der Wellen des Meeres sei sein, Der Friede des Fließens der Lüfte sei sein, Der Friede der ruhigen Erde sei sein…“ usw.) muss ich – immerhin befinden wir uns in einer diakonischen Einrichtung – auch das Vaterunser vorlesen. Bis auf mich können es sowieso alle auswendig und sprechen es mit. Das gemeinsame Rezitieren verbindet die Anwesenden (und den Toten, möchte ich hoffen) und ich habe das Gefühl, dass es auch ein Auszug aus der Bhagavadgita, dem Talmud oder Quran, oder ein anderer poetischer Text hätte sein können – entscheidend ist, dass durch solche Texte und die rituelle Verlesung der Sinn der Anwesenden zur Ruhe kommt und sich dem Unbekannten zuwendet, das der Tod für jeden ist.
Herr T. bzw. sein Körper liegt da, als ob er jeden Moment die Augen aufschlagen und mit charakteristischer Kurzangebundenheit die Leute im Zimmer anknurren könnte: „Was soll denn der Auflauf hier? Raus aus meinem Zimmer!!“ Tut er aber nicht, er ist bereits unterwegs in die nächste Dimension und auch ich nehme innerlich Abschied von einem Heimbewohner, der mir ein bißchen mehr als andere ans Herz gewachsen ist.