Ich sitze an meinem Rechner im Wohnzimmer, weil das Arbeitszimmer nun schon seit Monaten der Home Office Arbeitsplatz der Frau ist. So bin ich gezwungen, mit halbem Ohr das Fernsehprogramm mitzuverfolgen, das eine entspannungswillige Gattin an diesem müden Nachmittag eingeschaltet hat.
Im Fernsehen läuft ein Bericht über Schulen; es geht wohl um eine Lehrerin, die tolle neue Unterrichtsmethoden einsetzt. Am Beispiel ihrer Klasse und des gerade durchgenommen DDR-Projektes wird gezeigt, wie das funktioniert:
In Rollenspielen sollen sich die Schüler in die damalige Zeit und ihre Protagonisten hineinversetzen: sie spielen eine Woche lang DDR.
Warum’s da geht, ist sofort klar: „Die Schüler erfahren die Unfreiheit, als sie nicht ausreisen können“, verkündet der Sprecher unheilvoll. Dann wird gezeigt, wie der Staatsratsvorsitzende gewählt wird (etwa 12 Schüler sollen das Politbüro darstellen): „Die Wahl ist eine Farce, es gibt nur einen Kandidaten – Diktatur anschaulich gemacht!“
Die Kamera zeigt eine Gruppe Schüler, die lautstark „Freiheit! Freiheit!“ schreien, der Sprecher erläutert: „Wie zu DDR-Zeiten gehören auch im Rollenspiel viele zur Opposition. Der Unterricht: eine lebendige Art der Geschichtsvermittlung!“
Mittlerweile ist mir von der geballten Ladung antikommunistischer Desinformationshetze derartig schlecht geworden, dass ich in einem Anfall von Übellaunigkeit vor mich hin fluche und lautstark über die Indoktrinationsleistung des staatlichen Fernsehens ablästere.
Da die Frau sich gerade zum Rauchen in die Küche verzogen hat, ergreife ich die Gelegenheit und drücke den Mute-Button, um mir das Geseire nicht länger anhören zu müssen. Bei ihrer Rückkehr ist die Gattin, der die Existenz eines Stummschaltknopfes bisher unbekannt war, irritiert und beschwert sich über meinen Eingriff.
Für sie war die Sendung eine ganz normale Nachmittagsreportage, die sie wegen der gezeigten „innovativen Unterrichtsmethoden“ sogar noch einigermaßen interessant fand.
Ich versuche ihr zu beschreiben, was mich daran stört: „Als ob die DDR aus lauter bösartiger Unterdrückung und Unfreiheit bestand… Warum haben die staatlichen Medien es 30 Jahre nach dem Anschluß immer noch nötig, den ersten Sozialismusversuch auf deutschem Boden auf Deubel komm raus zu dämonisieren und zu delegitimieren? Im Subtext sagen sie doch nur eines: Kommt ja nie wieder auf den Gedanken, irgendeine andere Gesellschaftsordnung als Kapitalismus zu wagen! Alles andere führt zu STASIMAUERSTACHELDRAHT und UNFREIHEITUNDUNTERDRÜCKUNG!
Das sind die paar Stichworte, bei denen dem westlich konditionierten Bürger der antikommunistische Sabber aus dem Maul tropft wie Pawlows Hund beim Erklingen des Glöckchens!“
Die Liebste will das so genau aber garnicht wissen und verlangt von mir kategorisch, den Ton wieder anzustellen. Ich tue ihr den Gefallen und verziehe mich unter ein Paar Kopfhörer.
Bei der abendlichen Hunderunde ist das Vorkommnis erneut Thema. Ich entschuldige mich für mein wütendes Gezeter über ein Fernsehprogramm und räume ein, das ich ihr gegenüber mich manchmal benehme als wäre ich alleine oder unter kommunistischen Freunden.
„Du bist aber auch immer identifiziert mit diesem DDR-Kram“, kriege ich zu hören; „Und das stimmte doch auch, was die da gesagt haben, oder? Es gab doch die Stasi…!“
„Mein lieber Schatz, wenn man etwas verteidigt, heißt das noch lange nicht, dass man 100% mit allem übereinstimmt, was das zu Verteidigende ausmacht“, hole ich aus.
„Mir geht es darum, dass ein völlig einseitiges, gefärbtes Geschichtsbild vermittelt wird, das nicht auf Fakten beruht sondern auf einer ideologischen Vorgabe, nämlich der Deligimierung JEDES Sozialismusversuches. Außerdem wird das auch in wissenschaftlicher, historischer Sicht der Sache nicht gerecht, weil die positiven Aspekte der DDR grundsätzlich nur als zu vernachlässigende, zufällige Nebeneffekte einer grundsätzlich bösen Sache dargestellt werden, während bei uns auch die schlimmsten Massaker und übelsten strukturellen Gewaltverhältnisse immer nur als leider unvermeidliche Begleiterscheinungen des grundguten Freiheitundmarktwirtschafts-Paradieses verbucht werden…“
Die Gattin hört zu und nickt. „Also, dass man von beiden Seiten das Positive übernehmen sollte, das finde ich auch..“
Damit ist das Thema für sie erledigt und sie widmet sich elementareren Beobachtungen und Analysen, wie der auffälligen Anhäufung von dicken Menschen vor dem Eiscafé, an dem wir gerade vorbeigehen.
Dank meiner altersbedingten Weisheit vermeide ich die Falle, mich an dieser Stelle auf das Glatteis einer Diskussion zu begeben; die würde nur als rechthaberisches, besserwisserisches oder belehrendes Nachhaken aufgenommen werden. Meine Liebste ist nämlich insofern die ideale Gesprächspartnerin, als sie in ihrer politischen Konditionierung ziemlich genau dem bürgerlichen westdeutschen Standard entspricht, allerdings dem, der von sich gerne feststellt, dass er völlig unpolitisch sei.
Gerade Kommunisten sollten vermeiden, als besserwisserische Schlaumeier aufzutreten, die den Unwissenden ihre Weisheiten um die Ohren hauen. Sie sollten im Gegenteil jedes Gespräch so führen, dass das Gegenüber die Begriffe und Argumente versteht, sich ernst genommen und nicht bevormundet fühlt.
„Weißt du, ich rede manchmal mit dir – oder eigentlich eher vor mich hin – als ob ich mit meinem Freund R. in einer Kommunistenkneipe sitzen würde“, sage ich ihr. „Dabei weiß ich, dass du einen ganz anderen Hintergrund hast; sorry also, wenn ich dir zu viel zumute oder mich über Sachen aufrege, die dich garnicht interessieren…“
„Oh ja, das kannst euch echt mal besser mit deinem Freund R. diskutieren. Da könnt ihr euch gegenseitig voll labern. Das ist nicht meine Welt.“
„Und ob das deine Welt ist, mein Schatz, du willst bloß nichts davon wissen…“ beginne ich – breche aber sofort ab, schon um nicht meine eigene Einsicht von soeben, nach der solche Gespräche keinesfalls auch nur den Schatten eines missionarischen oder besserwisserischen Anfluges haben sollten, Lügen zu strafen.
Wir statten noch dem lokalen Bio-Supermarkt einen Besuch ab, um eine Flasche Wein zu erstehen und sind nach einer Stunde wieder zuhause. Ein, zwei Gläser später kommt meine Herzdame ins Sinnieren:
„Morgen ist schon der 18. April… unsere Lebenszeit rast dahin…“
„Das fällt dir in letzter Zeit öfters auf..“ entgegne ich, in der vagen Hoffnung auf eine philosophische Ergründung der letzten Dinge.
Die Antwort meiner stets praktisch denkenden Liebsten: „Nee, ich denke, wir sollten mal langsam unsere Beerdigungen planen“