Geschichten die das Leben schrieb: Geld, Kredit, Social Scoring und China

Nachdem letzte Woche eine übereifrige Bankmitarbeiterin der Frau den Schrecken ihres Lebens eingejagt hatte, indem sie wegen der heiratsbedingten Namensänderung eine enge Frist zur  Rückzahlung des Dispos setzte und die Sperrung des Kontos ankündigte, geht die Geschichte der kapitalismuskompatiblen Geldbeschaffungsmaßnahmen in die zweite Runde.

Die Frau hat einen Termin bei einer anderen Bank, wo sie ebenfalls ein Konto unterhält und einen Kredit am Laufen hat. Dort hatte man ihr vor längerer Zeit einen Termin anberaumt, bei dem ihr mal wieder ein NEUER Kredit angedreht werden soll, diesmal mit unschlagbar guten Zinsen, womit der alte abgelöst und irgendwie alles gut bzw. noch viel besser, jedenfalls optimal vorteilhaft für sie und damit für unsere gesamthafte Finanzlage werden würde. Wie gesagt gehört die Frau aufgrund ihres beamtenähnlich soliden jahrzehntelangen Jobs bei ein und demselben Versicherungskonzern zur Kernzielgruppe sämtlicher Kreditverleiher dieser kapitalistischen Welt.

Diesmal nimmt sie den Termin wahr, weil einer der unvorhersehbaren Wechselfälle des Lohnarbeiterlebens dringend den Zugriff auf über die kumulierten Arbeitslöhne hinausgehendes Geld nötig macht. Das AUTO ist mal wieder in der Vertragswerkstatt, der Flux-Kompensator (oder so ähnlich; ich glaube: NOX-Sensor) muss ausgetauscht werden und somit haben auch wir mal wieder unser winziges Scherflein von knapp 1.000 Euro zur 800 Millionen Euro Dividende beizusteuern, die alleine dieses Jahr in die Taschen bzw. auf die Konten von Susanne von Kladden und Stefan Quandt fließt.

Zudem macht der Zustand der Lese- und Seh-Hilfsmittel der Frau dringend neue Kontaktlinsen und eine neue Brille erforderlich, so daß auch hier irgendwie Geld zu manifestieren ist, um den Ansprüchen eines hochkonzentrierten Bildschirmjobs in der Finanzbranche gerecht zu werden – Ansprüche, die der „Arbeitgeber“ stellt, für deren kostenmäßige Auswirkungen auf Gesundheit und Sehkraft aber natürlich der „Arbeitnehmer“ zuständig ist.

Es herrscht also eine gewisse Dringlichkeit, frisches Geld herbeizuschaffen, so daß sich mit Lenin die Frage stellt: „Was tun?“. Ein Umschuldungskredit, der zu besseren Konditionen den alten ablöst, käme da ganz gelegen.

Als die Frau von dem Termin zurückkehrt – bemerkenswert spät – hat sie tatsächlich ein weiteres Darlehen bekommen, allerdings als Aufstockung des bestehenden und zu 11,5% Zinsen statt der versprochenen 7,5%. Das liegt daran, wie sie den Bankmenschen zitiert, dass ihr Scoring sich durch die heiratsbedingte Namensänderung „dramatisch verschlechtert“ hätte. Alles ganz normal, so jener; würde man z.B. von Düsseldorf nach Duisburg ziehen, würde das auch sofort ein drastisch negatives Scoring nach sich ziehen.

Mir kommen die kritischen Stimmen in den Sinn, die das chinesische Social Scoring System als Verwirklichung schlimmster dystopischer Fantasien brandmarken und garnicht genug Hetze und Häme über die dortige Staatsmacht ausschütten können wegen so einer teuflischen Erfindung.

Das deutsche Scoringsystem, das gar kein „soziales“ sein soll wie das chinesische, ist – passend zu einem kapitalistischen Big Player – rein finanziell gedacht und soll die Kreditwürdigkeit des Individuums erfassen. Ist diese ungenügend oder gar überhaupt nicht vorhanden, hat das für den Betreffenden die Konsequenz, dass sein Zugang zu Geld stark eingeschränkt ist. Das kommt in dieser Gesellschaft, in einem Staat, in dem Geldverdienen die conditio sind qua non jeder Lebensäußerung ist, de facto einem Ausschluss von vielen Angeboten und Möglichkeiten des Lebens und Zurechtkommenmüssens gleich – entspricht also auf jeden Fall auch einem sozialen Scoring.

Auch das chinesische SCS soll eine Kreditwürdigkeitsprüfung möglich machen. Die gab es in China bislang nämlich nicht. Es ist darüber hinaus aber vor allem als Instrument der Erziehung der Bürger zu rechtstreuen Mitgliedern im Sinne gesellschaftlicher Harmonie gedacht und sieht allerlei Vorteile und Vergünstigungen vor, wenn man sich an die Regeln hält, nicht beschummelt und betrügt, dem Staat keine Steuern schuldig bleibt und sich im Sinne des Sozialismus chinesischer Prägung als guter Bürger verhält.

In der Coronavirus-Krise nutzt die Regierung Chinas z.B. „Scoring-Systeme, um Bewohner zur Einhaltung von Quarantänevorschriften zu motivieren und Verstöße zu sanktionieren. So verteilt die Provinz Zhucheng (Shandong) sogenannte Shunde-Punkte. Für freiwillige Hilfe und das Befolgen der Isolationsmaßnahmen erhalten Bewohner zwischen 3 und 100 Punkten. Minuspunkte bekommt, wer gegen die Maßnahmen verstößt oder falsche Informationen über Netzwerke wie WeChat verbreitet. Die Shunde-Punkte fließen allerdings nicht in den staatlichen SCS-Score ein und sollen laut der Politik- und Wirtschaftsanalysten von Trivium China nicht in der landes­weiten NCISP-Datenbank gespeichert werden.“

Jedenfalls scheint eine Kritik an China ziemlich scheinheilig, wenn man selber mit dem Kreditscoring der bankmäßigen Bonitätsprüfung ein durchschlagendes Instrument sozialer Kontrolle hat, mit dem die Bürger in „anständig“ und „unzuverlässig“ oder „schlimmer Finger“ eingeteilt und Kraft der allmächtigen Herrschaft des Geldes effektiv von entschiedenen Bedingungen der sozialen Teilnahme ausgeschlossen werden.

Soweit mein Sinnieren; die Frau allerdings ist entschlossen, die Sache von der positiven Seite zu sehen. Ihre Verspätung hatte einzig den Grund, dass sie im Gefühl der neu erschlossenen Geldquelle erstmal die lokale „Schöner-Schnickschnack“-Händlerin aufsuchte, um dort diversen schönen Schnickschnack einzukaufen. Auch ein Besuch bei der Boutique vor der Haustüre verzögerte ihre Ankunft um einiges; dort nämlich sprang bereits seit geraumer Zeit ihr ein Kleidungsstück ins Auge, noch dessen Preis sie sich, mit dem Wissen um Frischgeldquellen im Hinterkopf, unbedingt erkundigen musste. Zum Glück konnte sie sich an dieser Stelle beherrschen, denn der Preis des besagten Kleidungsstückes belief sich in etwa auf den des Flux-Kompensators, der im Motor des Autos ersetzt werden musste.

Kurzum, die Gattin ist bester Dinge, und auf dem gemeinsamen abendlichen Gang mit dem Hund seufzt sie so erleichtert wie zufrieden: „Es ist doch auch schön, einfach mal Geld ausgeben zu können!“ Wer könnte das nicht nachvollziehen! Dumm nur, dass die Weisheit, die ich vor Jahren auf der Geldschale am Tresen eines Weimarer Einzelhändlers las, so unbestreitbar wahr ist: „Das meiste Geld gibt man beim Bezahlen aus!“

Zum chinesische SCS gibt es zwei lesenswerte Artikel:

1)https://www.heise.de/ct/artikel/Social-Scoring-in-China-4713878.html

2)https://www.heise.de/tp/features/Das-chinesische-Sozialkredit-