Manchmal überlege ich mir – nein, ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn ich nichts wüsste von all dem, was täglich und grundsätzlich an Informationen aus der sozialen Realität auf mich einstürmt. Wenn ich so täte, als existierten die barbarischen Verhältnisse nicht, die zum Nachteil der Leute (jedenfalls derjenigen, deren Lebensunterhalt in den Berechnungen der Kapitaleigentümer als Kostenfaktor auftaucht) jedem Insassen der Marktwirtschaft als Sachzwänge gegenübertreten.
Offensichtlich kriegen recht viele Zeitgenossen das bestens hin; die Mehrzahl von ihnen, wenn ich mich so umschaue.
Ich könnte doch von jetzt auf gleich so tun, als lebte ich in der besten aller Welten. Ich könnte aufhören, Zeitungen zu lesen (kommunistische zumal), Fernsehen zu schauen (außer unterhaltsame Filme dann und wann); ich könnte die ganze Beschäftigung mit Hintergründen und Erklärungen für den Wahnsinn der Welt, das Interesse an Erkenntnissen und Erklärungen der politische Ökonomie drangeben und ein friedliches, selbstgenügsames Leben in der bürgerlichen Filterblase führen.
Dank der staatlich besiegelten Partnerschaft mit der besten Frau der Welt, mit der ich Bett, Wohnstatt und Kosten des Lebens teile, könnte ich ein von größeren Sorgen unberührtes Leben am unteren Rand der Mittelschicht führen; ein Leben in einer komfortablen Altbauwohnung im besten Viertel der Landeshauptstadt, mit ausreichend Geld für die monatlichen Fixkosten und – wenn nichts kaputt geht (Auto, Waschmaschine oder so) – alle zwei Jahre vielleicht sogar in Urlaub fahren.
Statt mich jedesmal von neuem aufzuregen über die immer dreisteren Sauereien der herrschenden Klasse könnte ich einfach sagen „Politik? Interessiert mich nicht!“ und mich damit von einer Menge innerer Unbehaglichkeit und Unzufriedenheit befreien.
Anstelle des Wunsches nach Abschaffung der Verhältnisse, die zum Schaden von Leuten wie mir, also der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung, eingerichtet sind, könnte ich den Wunsch nach komfortablerer EINRICHTUNG in diesen Verhältnissen kultivieren und mir damit eine Art seelisches Valium verpassen, mit dem es sich bestimmt reibungsfreier leben läßt. Kurzum: ich könnte die blaue Pille nehmen und vergessen, dass ich jemals andere Verhältnisse als die bestehenden angestrebt habe.
Aber ich kann’s nicht (mehr). Leider hab ich schon die rote Pille geschluckt. Und die besteht aus ein paar Erklärungen der gesellschaftlichen Reproduktion namens Kapitalismus, die zu Argumenten FÜR ein anständiges Leben für alle werden. Der Wirkstoff in der roten Pille besteht aus der Einsicht, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse von Menschen gemacht werden und keine Naturgesetze sind.