Morgens um 7:15 kommt mir schon die aufgeregte Frau H. aus der „Tagesgruppe Demenz“ entgegen, sichtlich aufgewühlt (was allerdings ihr Dauerzustand ist seit einigen Monaten) und erkennbar „selbst aufgestanden“, also nicht vom Pflegepersonal geweckt und angezogen.
Wie nahezu jeden Morgen hat sie eine wüste Geschichte parat über die ungeheuerlichen Begebenheiten, die ihr wieder passiert sind und deren unschuldiges – zum Glück aber nicht doofes – Opfer sie ist.
„Du glaubst nicht, was mir wieder passiert ist!“, fängt sie übergangslos an zu erzählen. „Meine Mutter war da!“. Frau H wird demnächst 85, so dass es wenig wahrscheinlich ist, dass ihre leibhaftige Mutter im Pflegeheim auftaucht. Da ich weiß, dass Frau H. Traum, Erinnerungsrückblenden und Jetztzeit nicht auseinander halten kann, begleite ich sie erstmal nach draußen, wo sie zum Rauchen hinwollte.
Sie berichtet: „Jetzt pass auf! Die kam in mein Zimmer und hat da dein Bild gesehen. ‚Das wär der richtige Mann für dich!‘, hat sie mir gesagt. Das musste ich dir erzählen, da lachst du dich schlapp, hab ich mir gedacht. Und dann hat sie mir gesagt, ich muss meine Tabletten nehmen, sonst ist’s in einem halben Jahr zuende mit mir.“
Frau H. hat eine lange Geschichte von Verweigerung der Medikamenteneinnahme; Ärzte und Pflegekräfte haben immer wieder eine schwere Zeit, die resolute und selbstbewusste Frau zur Einnahme ihrer Medikamente zu bewegen. Die Intervention ihrer – längst verstorbenen – Mutter allerdings hat Frau H. offenbar überzeugt, dass sie sich nicht länger sperren soll: „‚Nimm deine Pillen, Kind!‘ hat sie mir gesagt, ‚ich komm sonst nicht zu deiner Beerdigung!
Frau H. nimmt einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, schaut mich an und sagt: „Ja, jetzt kuckst du mich an, als ob du mir nicht glaubst! Das war aber so! Was meinst du, was ich überrascht war, dass meine Mutter plötzlich rein kam…“