Die Zeitungsschau – ein Format, in dem ausgewählte Artikel (meist aus der lokalen und regionalen Umgebung), lustige bis merkwürdige Meldungen sowie Artikel mit Bezug zur Erlebniswelt der Bewohner vorgestellt und besprochen werden – wird unregelmäßig angeboten und gerne von den orientierteren Heimbewohnern besucht.
Tagespolitische Meldungen lasse ich dabei in der Regel weg, außer sie enthalten gleichzeitig einen humoristischen oder bizarren Aspekt.
Artikel zu geschichtlichen Ereignissen, Jubiläen, Jahrestagen u. dgl. dagegen sind beliebt und werden gern gehört und diskutiert – sicher auch aus dem Grund, dass viele davon die eigene Vergangenheit und Erinnerungen der Zuhörer berühren.
Heute, am 17. August, eröffne ich die Runde mit dem Hinweis, dass sich an diesem Tag zum 75. Mal der Todestag eines Mannes jährt, der zu den legendärsten Gestalten der jüngeren deutschen Geschichte gehört. Ratlose Gesichter schauen mich an.
“Ich lese Ihnen jetzt mal ein Zitat vor”, beginne ich. “Vielleicht kommen Sie dann drauf, wen ich meine.”
In Ernst Thälmanns “Antwort auf Briefe eines Kerkergenossen” von 1944 findet sich folgender bekannter Satz: “„Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk; und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation. Eine ritterliche, stolze und harte Nation. […] Ich bin Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische der deutschen Arbeiter und bin deshalb als ihr revolutionäres Kind später ihr revolutionärer Führer geworden.“
Ich lese das Zitat vor und frage in die Runde: “Und? Wer hat das gesagt, bzw. geschrieben?”
Frau S., Jahrgang 1930, schaut auf und fragt: “Adolf Hitler?”
Aus der anderen Ecke meldet sich Herr T.: “Nee, nee, das war der andere, dieser… na, der Kommunistenführer…”
Wie “der Kommunistenführer” aber hieß, will keinem einfallen. Als ich den Namen Ernst Thälmann in die Runde werfe, ertönt ein vielfaches “Achja…” und “Achso, der…”.
Gehört hat man in dieser Runde wohl schon von ihm, aber da es sich um einen “Kommunistenführer” handelte, ist wohl weder seine Bedeutung für die deutsche Geschichte, besonders für die der deutschen Arbeiterbewegung, noch seine Ermordung auf persönlichen Befehl Hitlers etwas, was der Erinnerung lohnt. Jedenfalls bei diesen alten Leuten nicht, die durchweg in der BRD sozialisiert und den Anti-Kommunismus als Staatsreligion inhaliert haben.
Wie anders wäre dasselbe Gedenken an meiner vorigen Arbeitsstelle in Weimar verlaufen! Dort hätte schon die Eingangsfrage verständnislose Blicke höchstens deswegen ausgelöst, weil man den Fragesteller für historisch ungebildet und ahnungslos gehalten hätte. Die meisten dort hätten die Zeilen des Thälmann-Liedes mitsingen können: “Thälmann ist niemals gefallen, Stimme und Faust der Nation…”
Ich erzähle meinen Zuhörern noch ein wenig von Wolfgang Otto, dem Thälmann-Mörder des SS-Kommandos 99, den die BRD-Justiz erst ganz in Ruhe ließ und dann mit Samthandschuhen behandelte, ganz so, wie es zur Kontinuität von “Drittem Reich” und westdeutschem Kalter-Krieg-Frontstaat passte. Keiner äußert sich, aber den Gedankenblasen ist zu entnehmen, dass es ja schliesslich ein Kommunist war, der da umgebracht wurde, somit also ein minder schweres Vergehen, rein politisch betrachtet.
Ich unterlasse den Versuch weiterer politischer Aufklärung und gehe über zu den Meldungen aus Neuss und Umgebung.