

Heute war mal wieder Lieder-Raten dran in der “Tagesgruppe Demenz”. Das geht so: ich illustriere irgendeinen Schlager oder ein Volkslied am Flipchart, und währenddessen raten die Leute drauflos. Zeichnerisch kann ich dabei nicht immer sehr präzise oder ausführlich sein, weil es vergleichsweise schnell gehen muss – schon um die begrenzte Aufmerksamkeitsspanne meiner dementen Schützlinge nicht überzubeanspruchen.
Wenn die richtige Antwort gefallen ist, spielen wir den Song per Spotify über einen Bluetooth Speaker ab (nebenbei: lauter Endgeräte von mir, die ich selber mit zur Arbeit bringe).
Als Anreiz gab es für die Gewinnerin heute den GOLDENEN FLOH, was gleichzeitig eine schöne Gelegenheit bot, über den Floh als solchen, Flohzirkusse und die Kunst des Flöhe-Fangens zu sprechen.
Musik ist bei der Betreuung von Dementen ein Schlüsselelement; die Verschaltungen im Gehirn sind offenbar so angelegt, dass die Regionen, die musikalische Erinnerungen speichern, zu den ältesten und dauerhaftesten Gedächtnis-“Datenbanken” gehören (deshalb können auch hochdemente Menschen immer noch die Wiegen- und Kindheitslieder aus ihrer frühesten Vergangenheit erinnern und mitsingen). Es kann passieren, dass die Erinnerung an Lieder und Klänge auch andere scheinbar nicht mehr zugängliche Erinnerungen wachruft oder anstößt.
Die Verbindung von visuellen Eindrücken – z.B. einer Zeichnung – zu akustischen ist allerdings eine andere Herausforderung, die vergleichsweise viel an logischer Verknüpfungsleistung und Abstraktionsfähigkeit erfordert. Von daher bin ich nicht verwundert, dass nur zwei Damen wirklich aktiv bei dem Ratespiel mitmachen. Die übrigen Teilnehmer verfolgen das Geschehen ebenfalls interessiert, können aber den Zusammenhang zwischen Bild und Lied(-erinnerung) einfach nicht herstellen, bzw. brauchen längere Zeit dafür.
So wetteifern Frau H. und Frau K. um den GOLDENEN FLOH, der letztlich an Frau H. geht, die 6 von acht Songs richtig bestimmt.
Frau H., meine gelegentliche Rauchpausen-Partnerin, wirkt heute insgesamt etwas durcheinander. Nach der Rate-Runde sitzt sie eine Weile still da und beschwert sich über das wiederholte Weinen unserer hochdementen Frau S.
Als es ans Mittagessen geht und wir den Tisch eindecken, beugt sich Frau H. plötzlich vor, dreht den Kopf in Richtung Geschirrschrank (eine alte Vitrine) und betrachtet aufmerksam und fast gebannt das Spiegelbild in den Glasscheiben.
Dan wendet sie sich an mich: “Sag mal, die Frau da, die zweite Frau von hinten – ist das meine Schwester? Die wohnt ja in Hamburg, dann ist die jetzt doch mich besuchen gekommen…”
Ich bin an “Alice hinter den Spiegeln” erinnert, und auch erstmal verdutzt über die offensichtliche Unfähigkeit von Frau H., zwischen Personen vor und hinter dem Spiegel zu unterscheiden. Vielleicht, denke ich, verwechselt sie ja ihr eigenes Spiegelbild in der ungewohnten Reflexion des Geschirrschrankes mit dem Bild ihrer Schwester, die ihr ja vermutlich ähnlich sieht.
Ich antworte ihr: “Das ist die Spiegelung von uns allen hier, in der Glastür, Frau H. Das sind SIE, und die anderen, die hier am Tisch sitzen!”
Das akzeptiert sie aber nicht als Antwort. “Nee, ich meine nicht mich, ich kann mich schon selber erkennen! Ich meine die Frau da hinten!! Das ist doch meine Schwester! Dann hat die das doch endlich geschafft, mal herzukommen!”
Ich merke, dass hier kein Beharren auf Wahrnehmungskonventionen des “normalen” Verstandes möglich ist, und versuche es anders. Zunächst mal akzeptiere ich Frau H.s Version, dass sich in der Realität hinter den Spiegeln eine Person manifestiert, die in ihrer Erinnerung eine große Rolle spielt (allerdings meine ich mich auch zu erinnern, dass sie die in ihrer Familie die einzige Überlebende ihrer Generation ist). Ich frage: “Lebt ihre Schwester denn überhaupt noch?”
“Ja klar!”, kommt sofort die Antwort, "Die ist doch gerade erst nach Hamburg gezogen, weil sie da geheiratet hat…!”
Das verschafft mir Klarheit darüber, dass in Frau H.s Wahrnehmung eine zeitliche Verschiebung stattfindet, denn ihre Schwester – wenn sie überhaupt je in Hamburg geheiratet hat – hat dies wohl eher vor 50 oder 60 Jahren gemacht und nicht “kürzlich”. Gleichzeitig gewinnt die Realitätsverschiebung eine sozusagen magische Dimension durch den Raum, in dem Frau H. sie stattfinden sieht: das geheimnisvolle Land hinter dem Spiegel, dessen Lichtreflexe, Schemen und unscharfen Konturen sicher eine gute Analogie zum inneren Erleben eines dementen Menschen darstellen.
Letztlich löst sich alles von alleine: der Essenswagen wird aus der Küche hochgebracht und der Geruch von Reibekuchen erfüllt den Tagesgruppenraum. Frau H. kümmert sich nicht weiter um ihre Schwester und vertilgt mit großem Appetit die leckeren Reibekuchen mit Apfelmus.