Die wohlhabende Verwandtschaft (Ärzte und Klinikbetreiber) der Frau ist unter ihresgleichen bestens vernetzt und spendet dank der Bekanntschaft mit einem örtlichen Keksfabrikanten dem Pflegeheim, von dem ich meinen Niedriglohn beziehe, zwei Umzugskisten mit allerlei Weihnachtsgebäck.
Seit ich wieder im Leben meiner Herzensdame aufgetaucht bin und dann auch noch mit ihr zusammen eine Wohnung bezogen habe, lassen sich gelegentliche Treffen mit diesen wohlbestallten Oberschichtsbürgern nicht vermeiden (auch wenn ich das versuche). Bei jeder dieser Begegnungen spüre ich die Herablassung und soziale Verachtung, mit der die Leistungsträger der Klassengesellschaft diejenigen betrachten, die in der Berufe- und Einkommenshierarchie so weit unter ihnen angesiedelt sind wie ich.
Keine 24 Stunden nachdem die Kekslieferung (in meiner Abwesenheit) bei mir abgegeben wurde, erhalte ich eine Nachricht der Schwägerin, dass sie für diese gute Tat „schon ein Wort des Dankes verdient“ hätte, jetzt aber durch dessen Ausbleiben „enttäuscht“ sei.
Es entspannt sich innerhalb von wenigen Messages ein Dialog, in dem ich sie informiere, dass ich ihre Spende durchaus zu würdigen weiß, mich meine Arbeitsbelastung speziell um Weihnachten herum bislang aber daran gehindert hat, die gesellschaftlichen Höflichkeitskonventionen zu beachten.
Außerdem kann ich es mir nicht verkneifen, die villenbesitzende Bildungsbürgerin mit einem Seneca-Zitat vertraut zumachen: „Der Lohn einer guten Handlung liegt darin, dass man sie vollbracht hat“.
An dieser Stelle entgleist die Konversation, und meine Gesprächspartnerin zeigt sich empört über meine unbotmäßige Frechheit; sie fühlt sich bemüßigt, mir meine standesgemäßen Grenzen aufzuzeigen. „Überheblichkeit!“, „Das ist eine Ohrfeige!“, „Übers Ziel hinausgeschossen!“ erscheint auf dem Screen meines Telefons.
Erfreut über die Wirksamkeit meiner Anmerkung auf die wohltätigkeitige Selbstwichtigkeit meiner Schwägerin setze ich gleich noch einen drauf und erläutere ihr, dass das gute alte „Tu Gutes und rede drüber“ auch mir bekannt sei und ich verstünde, dass sie einen diesbezüglichen Hinweis nicht gerne hört.
Jetzt ist der Ofen aus bei meiner Chat-Partnerin und mit einem empörten „Es reicht!“ und der Nachfrage, für wen ich mich eigentlich halten würde, beendet sie die Konversation.
Dass SIE sich offenbar für jemanden hält, der nicht nur für seine Almosen (die sie noch nicht mal selbst gespendet hat) gefeiert werden möchte, sondern auch noch jeglichen Widerspruch gegen diese Milde-Gabe-Ego-Erhöhungs-Nummer als Unverschämtheit betrachtet, ist außerhalb ihrer Reflektionskapazität.
Damit ist die Geschichte jedoch nicht beendet. Als die Frau von diesem Dialog erfährt, platzt sie wütend heraus, ob ich es darauf anlegen würde, dass sie ihre Familie fortan nur alleine besucht oder diese nur noch komme, wenn ich nicht da wäre. Das war zwar keineswegs meine Absicht, aber wenn ich’s recht bedenke, ist mir diese Konsequenz sehr recht. Auf den Umgang mit arroganten Bourgeois, die sich etwas darauf einbilden, wenn sie mit ein bißchen Wohltätigkeit ihr soziales Gewissen beruhigen, lege ich tatsächlich keinen Wert.
Der ganze Vorgang zeigt (mir jedenfalls), dass die Grenzen innerhalb der Klassengesellschaft vor allen von denen gezogen werden, die oben in der sozialen Hierarchie angesiedelt sind; außerdem, dass die bürgerlichen Höflichkeits- und Benimmregeln vorrangig dazu da sind, diese Einteilung in Oben und Unten, in Besitzende und Besitzlose festzunageln und niemals anzutasten.
Ende vom Lied übrigens: bin exkommuniziert und darf den herrschaftlichen Villen-Bungalow nicht mehr betreten.
Ich kann mir schlimmere Sanktionen vorstellen.