Geschichten aus dem Pflegeheim: sediertes Lamento

Frau M. aus der „Tagesgruppe Demenz“ ist nach einem Sturz, bei dem sie sich den Arm brach, schlecht beieinander und klagt immer wieder über Schmerzen (einer OP haben ihre Töchter nicht zugestimmt, aus Angst, dass die Mutter nicht mehr aus der Narkose aufwacht).

So wehklagt und lamentiert Frau M. fast unablässig über ihr schweres Los, wobei sie in einen melodiösen, aber monotonen Singsang verfällt, der durch ihren rumäniendeutschen Akzent noch besondere Eindringlichkeit gewinnt.

Demente Menschen empfinden in ihrer orientierungslosen Bedrängnis (gerade, wenn sie in psychisch angespannte Situationen geraten) oftmals die unverständliche, nicht mehr durchschaubare Umwelt als Quell des Übels und Ort vielfältiger Boshaftigkeiten. Insbesondere vermuten sie bei jedem verlegten Gegenstand, bei jeder Desorientiertheit bei der Lokalisierung irgendwelcher Dinge, diebische Aktivitäten und rufen in ihrer Hilflosigkeit nach Polizei, Strafe und Vergeltung.

Bei Frau M. fällt alles in eins: ihr Sturz, der gebrochene Arm, die folgende nahezu komplette Desorientiertheit kann ihr dementer Verstand sich nur so erklären, dass feindliche Mächte ihr Böses wollten:

Diese Schweine! Wenn ich die erwische, die mir das angetan haben, dann werde ich sie alle der Polizei übergeben!“, deklamiert sie; dabei erhebt sie sich mit einiger Mühe von ihrem Stuhl und schwingt ihren Krückstock durch die Luft.

Unvermittelt verfällt sie dann in ein Lamento der tragischen Art, wobei sie die Regeln der Grammatik souverän missachtet: „Ich arm und krank! Mein Arm hängt nur noch an einem Faden, ich habe immer Schmerzen…Die behaupten, ich habe sie bestohlen! Ich schwöre bei Gott (sie zeigt mit dem Krückstock gen Himmel), das ich nie einen anderen Menschen belogen oder bestohlen habe!

„Die“ sind keine definierten Personen, sondern stehen stellvertretend für die riesigen unverständlichen Abgründe, die sich in ihrem dementen Geist auftun.

Inzwischen wird es den anderen Tagesgruppen-Teilnehmerinnen, die sich seit einer Weile Frau M.s Deklamationen zunehmend genervt angehört haben, zu bunt, und ihre Sitznachbarin, die 90-jährige Frau M., holt aus und verpasst ihr mit Schwung einen Schlag auf den ihr zugewandten (gebrochenen) Arm:

„Gib jetzt mal Ruhe!“.

Die Sitznachbarin ist sonst eine sehr freundliche und ausgeglichene Dame, aber diesmal ist ihr offensichtlich der Kragen geplatzt.

Von gegenüber tönt die ebenfalls maximal genervte Frau K.: „Jetzt HALT endlich das Maul, du blöde Kuh!“

Frau M. (mit dem gebrochenen Arm) ist für ein paar Sekunden perplex. Dann beginnt sie, noch weinerlicher, ein neues Lamento: „Was machen Sie da? Fassen Sie meinen Arm nicht an! Den haben sie mir abgeschnitten!! Ich blute überall….“

An dieser Stelle sehe ich, das ich trotz der proportional ansteigenden Situationskomik eingreifen muss und setze mich zu Frau M. (mit dem gebrochenen Arm), nehme sie (vorsichtig) in den Arm, spende ihr Trost und sage den anderen, das Frau M. es gerade nicht leicht hat. Da ich nicht mit der Einsichtsfähigkeit der anderen Gruppenteilnehmer rechnen kann, nehme ich Frau M. aus der Gruppe raus, bringe sie auf auf ihr Zimmer und versuche, ihr ein Gefühl von Aufgehobensein und Verständnis zu vermitteln.

Die desorientierte und von ihrem gesundheitlichen Zustand zusätzlich verwirrte alte Dame ist froh, der Gruppe und den vielfältigen konfusen Eindrücken entkommen zu sein. Da ich wieder zurück in die Gruppe muss, verabschiede ich mich erst mal von ihr; sie schaut mich hilflos an und fragt „Kommst du wieder?“

Natürlich sage ich ja, obwohl ich nicht weiß, ob ich das im Laufe des Morgens schaffe. (Ich sehe sie an diesem Morgen nicht wieder.)

Später erzählt mir die Wohnbereichsleiterin, die ich auf Frau M. anspreche: „Die wird jetzt sediert.“ Obwohl ich kein Freund chemischer Ruhigstellung bin, muss ich einsehen, das es in diesem Fall für die Bewohnerin selber und für die Gruppe das Beste ist.