Demenz hat viele Erscheinungsformen und Stufen. Einigen dementen Menschen sieht und merkt man es sofort an,weil sie selbst einfachste Alltagsvorrichtungen nicht mehr verstehen und bewerkstelligen können. Andere kommunizieren weitgehend unauffällig, verstehen in einer Unterhaltung Sinn und Gesagtes und wirken bei oberflächlichem Kontakt ganz “normal”.
Meine Neugierde und Faszination mit den Funktionsweisen des menschlichen Geistes erfährt durch den täglichen Umgang mit dementiell veränderten Menschen eine Vertiefung und Erweiterung, die mich selber manchmal überrascht.
In all dem kommt nie der Humor zu kurz, weil gerade Demente neben Musik und Bildsprache sehr empfänglich für Humor sind.
Heute mussten wir bei zwei Teilnehmerinnen unserer “Tagesgruppe Demenz” den “Uhrentest” durchführen. Dabei wird der Person eine Uhr ohne Ziffernblatt und Zeiger vorgelegt, auf der die Zahlen eingetragen und eine bestimmte Uhrzeit mit den Zeigern markiert werden soll.
Frau K., die mir schon immer schlauer vorkam als sie in der Gruppe tat, löste die Aufgabe problemlos und schnell.
Danach war unsere “Demenzkönigin” Frau S. dran. Diese kleine, gutmütige Frau aus Westpommern hat in den letzten paar Monaten mehr und mehr inneren Boden unter den Füßen verloren und wirkt in der Welt ihrer dementiellen Isolierung oft wie Alice im Wunderland, allerdings ohne ein Kaninchen, das sie aus dem Bau führen könnte. Zudem macht sie das innere Erleben der zunehmenden Fragmentierung ihrer Wahrnehmungen und Erinnerungen manchmal aggressiv. Sie wird dadurch zur Gefahr für sich und andere und erhält deshalb seit einiger Zeit starke Psychopharmaka.
Als ich mit dem Uhrentest zu Frau S. komme und ihr in sehr einfachen Worten erkläre, worum es geht (ich nehme sogar die Wanduhr unseres Gruppenraumes ab und zeige ihr, wie eine Uhr normalerweise aussieht), schaut sie mich mit großen Augen an. Um es nicht zu kompliziert für sie zu machen, frage ich sie, ob sie mir zeigen kann, wo die Uhrzeiger stehen, wenn es zwölf Uhr ist.
“Nein, das kann ich nicht”, antwortet Frau S. und schüttelt den Kopf. “Ich war doch nicht dabei!”, fügt sie an, und wirkt wie jemand, der einem Schulbuben Selbstverständliches erklären muss.
Ich belasse es bei dem Versuch und denke mir, dass sie gar nicht so unrecht hat. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Einteilung und Messung des Zeitablaufes sind Konzepte, die (abgesehen von den frühen Erinnerungen an Kindheit und Jugend, die auch bei schwerer Demenz nie ganz verblassen) für Frau S. keine Bedeutung mehr haben.
Frau K. hat sich indessen lautstark und fordernd immer wieder über einen Juckreiz an der Hüfte beschwert. Glaubt man ihrem Wehklagen, steht sie kurz vor dem Exitus. “Warum hilft mir den keiner?!” jammert sie und beklagt ausgiebig das fiese Jucken. Den naheliegenden Vorschlag, sich doch mal an der Stelle zu kratzen, tut sie ab: “Das hilft nicht”, wehklagt sie. “Kratz du mich mal, Liebchen!” (Liebchen sind bei ihr alle Pflege- und Betreuungskräfte).
Ich tue ihr den Gefallen, weil ich weiß, dass sonst erst mal für 20 Minuten Juckalarm in der Gruppe ist und keiner zur Ruhe kommt.
Damit hat mich Frau K. allerdings auch auf eine Idee gebracht und schon haben wir ein Thema für die anstehende “Bunte Runde”: die verschiedenen Arten von körperlichen Beschwerden und Schmerzen – ein Thema, das allen GruppenteilnehmerInnen bestens vertraut ist.
Schon ist ein Blatt des Flipcharts vollgemalt und die Runde debattiert, welche Schmerzen die lästigsten sind. Auch Frau K. beteiligt sich mit Leidenschaft an der Debatte – der Juckreiz ist vergessen – und stimmt wie die Mehrheit der Anwesenden der Ansicht zu, dass der schlimmste Schmerz doch der Herzschmerz sei.