Geschichten aus dem Pflegeheim: Wann fängt der Film an?

Die Kino-Nachmittage im Heim sind beliebt bei den BewohnerInnen.
Im Gegensatz zu meiner vorigen Arbeitsstelle, an der wir cineastische Schonkost verabreichten und aus Rücksicht auf Aufnahmekapazität und Ausdauer vor allem der dementeren HeimbewohnerInnen nur Geo- oder Natur-Dokus bzw. alte TV-Serien von maximal 45 Minuten zeigten, kommen an meiner jetzigen Wirkungsstätte vor allem Filmklassiker der 1930er- 1960er-Jahre zur Aufführung.

Diesmal steht “Liebe will gelernt sein” auf dem Programm, die Verfilmung eines Theaterstückes von Erich Kästner, zu der Kästner selbst das Drehbuch geaschrieben hatte. (Nebenbei bemerkt ein Film, dessen peinliche, teilweise grottig sexistische Darstellung von Geschlechterrollen und Moralvorstellungen derart von überkommenen Klischees strotzt, dass man sich in gottseidank längst vergangee Zeiten zurückversetzt fühlt – Zeiten, nach denen sich bekanntlich AfD-Spacken und andere Heimatfreunde gerne sehnen).
Im Wohnbereich 2 frage ich die gottesfürchtige Frau M. (ihre Lieblingsbeschäftigung ist das monotone Hersagen des Vaterunsers), ob sie 
zur Kinovorstellung

mitkommen möchte.
“Ja, fahr mich mal hin!”, erhalte ich zur Antwort.

Zeitsprung in die ca. 60. Minute des Films:
Frau M. wird zusehends unruhig, ein paar andere Kinobesucher ebenso; ich ergreife die Gelegenheit und unterbreche, um denjenigen, die nicht mehr bleiben wollen oder können, die Möglichkeit zum Verlassen des Saales zu geben.
Ich frage Frau M., ob ich sie zurück in den Wohnbereich bringen soll. “Ja, ja… das ist ja eine Scheiße hier! Wann fängt denn der Film an?!” kriege ich von der sichtlich missgelaunten Frau zu hören.
Ich so: “Äh… Frau M., den kucken wir hier seit einer Stunde…”
Frau M.: “Ja, egal, fahr mich nach hause!”

Ich bringe sie durch die langen Flure zurück auf ihren Wohnbereich und kehre zurück, um einen weiteren “Abbrecher” desselben Wohnbereiches zu holen. Als ich mit diesem im Gemeinschaftsraum ankomme und ihn auf seinen Platz bugsiere, wird Frau M., die gerade mal wieder Fragmente des Vaterunsers vor sich hin gemurmelt hatte, plötzlich munter. Vermutlich ausgelöst durch mein Erscheinen fällt ihr ein, dass das Nachmittagsangebot ansteht.

“Wann fängt denn nun dieser Film an?”, fragt sie mich in einer Ahnungslosigkeit und Unschuld, die mir deutlich machen, dass Frau M. nicht weiss, wo sie die letzte Stunde verbracht hat. Gleichzeitig kommt in ihrer Frage die Vorfreude auf Abwechslung im öden Heimalltag zum Ausdruck; jedenfalls bringe ich es nicht übers Herz, ihr mit Fakten Zeiten und Zahlen zu kommen und antworte freundlich: “Den zeigen wir nächste Woche, Frau M.!”

“Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.”