Die 99-jährige Frau B. ist vergleichsweise rüstig, aber räumlich wie zeitlich oft desorientiert. Nachdem ich ihr im Speisesaal das Essen gebracht habe (sie isst selbständig und mit Appetit) bedankt sie sich für die leckere Mahlzeit und möchte nun „nach Hause gehen“.
Dass ihr Zimmer 15m entfernt um die Ecke desselben Wohnbereiches liegt, hat Frau B. nicht parat. Überhaupt ist sie mit einem Mal völlig ratlos inmitten eines Raumzeitgefüges, das sich ihr nicht erschließt.
„Wo bin ich denn hier eigentlich?“ fragt sie mich erstaunt, aber ruhig. „Ich muss doch nach Hause…“
Ich antworte „Sie sind hier im Alten- und Pflegeheim Sowieso-Haus, Frau B. Ihr Zimmer ist hier um die Ecke.“ (ich deute in Richtung Tür).
„Ah, das trifft sich gut! Da wohne ich nämlich“, fällt ihr wieder ein. „Aber wie komm ich denn dahin?“
Ich biete ihr an, sie zum Zimmer zu begleiten, was sie dankbar annimmt.
So ganz ist ihre Besorgnis aber noch nicht verschwunden, denn unterwegs erzählt sie mir:
„Ich muss wirklich nach Hause… Meine Eltern sind auch schon alt, denen geht es nicht so gut…“
Ich frage sie: „Wie alt sind SIE denn, Frau B.?“, um sie vielleicht darauf zu bringen, dass eine fast Hundertjährige kaum Eltern haben kann, die noch am Leben sind.
„Die sagen mir hier immer, ich bin fast 100“, antwortet meine Begleiterin, „aber das stimmt gar nicht. Ich bin Jahrgang Neunzehn.“
„Naja, Frau B., wir haben jetzt 2018. Demnach werden Sie nächstes Jahr tatsächlich 100 Jahre alt“, antwortete ich – hoffend, dass ich ihr jetzt nicht ein eventuelles jüngeres Eigenbild zerstöre.
Sie wirkt verdutzt, ist aber bereit, diese Information zu akzeptieren. „Also, wenn Sie das auch sagen, wird’s wohl stimmen…. Dann muss ich mich eben damit abfinden.“