Geschichten die das Leben schrieb: Beobachtungen aus der Klassengesellschaft im Regionalzug nach Sylt

Im RegionalExpress nach Sylt. Eine Dame in teuren Klamotten steigt zu und setzt sich mir gegenüber. Sie ist groß, blond, etwa Mitte bis Ende 60. Louis-Vuitton-Tasche; leicht protzige, aber nichtsdestotrotz kostbar aussehende Ringe an den Fingern – die ganze Frau strahlt Aura und Habitus der Oberschicht aus.

Eben die Art Angehörige der Bourgeoisie, die auch mit fast 70 noch ansehnlich aussehen, weil sie ihr Leben lang nicht wirklich arbeiten mussten sowie Geld und Muße hatten, sich hinreichend zu schonen und zu pflegen.

Kaum hat sie sich gesetzt, schon klingelt ihr iPhone, eindeutig die neueste Version. Eine Verwandte scheint dran zu sein, denn der Tonfall ist sofort vertraulich und familiär. Sprache und Ausdrucksweise sind die der Hamburger feinen Gesellschaft: eine hauchfeine norddeutsche Tönung ist noch im Sprachrhythmus und manchen Ausdrücken enthalten, aber die Sätze perlen akkurat, gewählt und annähernd makellos aus ihrem Mund ins Ohr der Anruferin, offensichtlich eine Tochter.

“Ich sitze im Zug nach Westerland; das Auto hab ich am Bahnhof gelassen. Ich will mir da doch eine Wohnung kaufen; ich will das Geld vom Konto weghaben…. Ich hab keine Nerven mehr für das ständige Auf und Ab der Börsen. Ich kauf mir jetzt diese Wohnung und gebe die dann in die Vermietung; das ist eine sichere Sache.”

Die Tochter fragt irgendwas; scheinbar nach der Größe der Immobilie und ob es nur eine Wohnung oder ein Haus sei.

Die Mutter winkt ab: “Nee, da zahlst du ja für ein Reihenhaus schon um die drei Millionen. Es ist eine Wohnung. So sechshundert etwa.”

Womit sie natürlich 600.000,00 Euro meint und deutlich macht, dass ihresgleichen an einem x-beliebigen Wochentag mal eben ein Geld auszugeben in der Lage ist, dass ein Lohnarbeiter in einem halben oder ganzem Arbeitsleben nicht zusammensparen kann.

Das Gespräch wendet sich dann familiären Themen zu; offensichtlich hat ein Verwandter massive Schwierigkeiten mit dem Finanzamt und müsse jetzt unbedingt einen möglicherweise anstehenden “ganz großen Auftrag” an Land ziehen, womit er “wieder in die Puschen kommen und die Sache mit dem Finanzamt erledigen” könne.

Desweiteren wird der neue Boyfriend einer Enkelin besprochen. Dieser sei zwar sensibel und schüchtern, ansonsten aber ein guter Mensch, weshalb die Enkelin auch schrecklich verliebt in ihn sei. Es wäre ihm auch ganz egal, wie die Freundin sich anziehe, “ob sie sich anmalt oder nicht” usw. – eine Haltung, die umgekehrt leider auch an ihm selbst zu konstatieren sei, er gäbe bedauerlicherweise nicht viel auf sein Äußeres. “Aber da können wir ja noch korrigierend eingreifen”, bemerkt mein Sitzgegenüber an dieser Stelle. “Ich hatte auch mal eine Hippie-Phase, aber wenn man älter wird, geht man back to the Roots. Das ist so.”

Inzwischen fühle ich mich bestens unterhalten und bedauere ein wenig, dass das Gespräch wegen der Ankunft am Zielbahnhof beendet werden muss.
Die elegante Dame steckt ihr iPhone in die Louis Vuitton-Tasche, schaut mich an und sagt: “Entschuldigen Sie bitte – die Familie…!”

Ich versichere ihr, dass ich mich nach Kräften bemüht habe, wegzuhören (was glatt gelogen ist) und gehe vergnügt meines Weges.