Besuch auf der Erde – Bericht eines Zeitreisenden

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Ich trat aus der Zeitlosigkeit heraus und betrat mit frischen Augen, die Programmierungen der Vergangenheit abstreifend, die äußere Realität des dritten Planeten zu Beginn des – nach der Zeitrechnung der Erdlinge – dritten Jahrtausends.

Es gelang mir, mich unerkannt einzufügen in das betriebsame Durcheinander einer Spezies, die nur mit einem beschäftigt schien: Überleben in einem so unverständlichen wie unnötigem Kampf jeder gegen jeden, aller gegen alle; ein Kampf, den die Kämpfer selber religiös verklärten und verabsolutierten mit Sagen und Erzählungen über „Freiheit“ und einer angeblich ihnen innewohnenden Neigung zur Konkurrenz und zur Hierarchie.

Ja, sie gingen sogar soweit, dass sie die bizarren Rituale ihrer privaten und gesellschaftlichen Reproduktion auf eine nur ihnen eigenen und innewohnenden „Natur“ zurückführten, auch wenn weit und breit keine Lebensform in Sicht war – weder auf dem dritten noch irgendeinem anderen der bewohnten Planeten – deren Natur im erbarmungslosen Ringen um Dominanz über ihresgleichen bestand oder in der davon bewirkten fortschreitenden Zerstörung ihrer eigene Lebensgrundlagen.

Am merkwürdigsten allerdings mutete mich an, dass diese Spezies, die kognitiv eindeutig zur Abstraktion und Selbstwahrnehmung befähigt schien und eine ausgeprägten präfrontalen Cortex besaß, in ihren privaten wie vor allem in ihren öffentlichen Räumen buchstäblich überall, auf jeder freien und sichtbaren Fläche, Botschaften des Inhaltes anbrachte, dass das Gattungsindividuum die Güter und Waren, die seine Gesellschaft herstellte, kaufen und konsumieren möge.

Durch den Wegfall einer Rückkehrmöglichkeit (aufgrund eines Risses in der Raumzeit) währte mein Besuch nun bereits etliche Jahrzehnte, und mich deuchte, das oben beschriebene Phänomen würde immer ausgreifender und allgegenwärtiger. Und so war es auch: immerzu und in überwältigender Häufigkeit forderten die Erdlinge sich gegenseitig auf, die Zahlungsmittel ihrer Gesellschaft für Kaufvorgänge einzusetzen. Dabei schien es egal, für welche Art Konsumtion dieser weitgehend rituelle Vorgang vollzogen würde – entscheidend war wohl, DASS er vollzogen wurde.

Wohin ein unbefangener Besucher dieses Planeten seinen Blick auch richtete (jedenfalls solange er sich nicht in einer der wenigen verbliebenen dünner besiedelten Zonen der Planetenoberfläche befand), sein Cortex erlebte einen Ansturm verschiedenster Konsum- und Verhaltensaufforderungen und Kaufanreize. Die visuelle Überflutung praktisch aller Gesellschaften des Planeten mit solch primitiver, im wesentlichen die niederen Instinkte ansprechenden, Gedankenkontrolle wurde allerdings von den Eingeborenen kaum registriert. Sie hatten sich daran gewöhnt und schienen die allgegenwärtigen Reize der Verhaltenssteuerung nicht mehr bewusst wahrzunehmen.

Das allerdings war ganz im Sinne ihrer Herren, die angewiesen waren auf das beständige, endlos wiederholte und immer neu definierte Konsumtions- und Unterordnungsverhalten der einzelnen Gattungsvertreter. Denn dies waren Gesellschaften, deren Reichtum in der abstrakten Form des Zugriffs auf die Produkte gemessen wurde, die die Gesellschaften hervorbrachte.

GELD hieß die konkrete Manifestation dieses Zugriffs, und der Zugang zu dieser einzig legitimierten Quelle des Überlebenkönnens und -dürfens in den primitiven Gesellschaftsordnungen des Planeten war strikt reglementiert. Und zwar dem äußeren Anschein nach frei und gleich für jedes Individuum, tatsächlich jedoch entsprechend den hierarchischen Verhältnissen, die der Besitz dieses „Geldes“ (und damit der Möglichkeiten seiner Benutzung und Vermehrung) bereits eingerichtet hatte – und das seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden.

All dies war den betriebsam hin- und her eilenden einzelnen Gattungsvertretern nicht bewusst, während sie ihren täglichen Verrichtungen nachgingen und dabei getrieben waren von der Notwendigkeit eines Überlebens in solcherart absurden Verhältnissen. Sie wähnten sich sogar ohne Herrschaft über sich, da ihre Herren selten als solche auftraten, sondern sich viel lieber den Anschein gaben, Vertreter des allgemeinen Interesses dieser spezifischen Gesellschaften zu sein.

Dadurch, dass der Reichtum in Geld gemessen wurde – und zur Gewinnung eines Reichtums, der in den Augen der Erdlinge diesen Namen verdiente – waren die Besitzer des Reichtums jedoch abhängig von den Produzenten desselben, ohne deren Arbeit nichts produziert und auch kein Reichtum zustande kommen konnte.

Deshalb war ihr Hauptbestreben, letztere niemals dieser Tatsache gewahr werden zu lassen. Dies nämlich hätte für die Herren leicht das Ende ihrer Herrschaft bedeuten können – die Produzenten hätten auf den Gedanken kommen können, die Dinge ihres Bedarfes einfach ohne Herren selber herzustellen und zu verteilen.

Meine Feldforschungen haben jedoch ergeben, dass es anscheinend einige wenige Exemplare unter den planetarischen Humanoiden gab, die die Möglichkeiten ihres entwickelten präfrontalen Cortex nutzten, um sich und ihresgleichen die terrestrische Wirklichkeit zu erklären, damit sie diese entsprechend den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der gesamten Spezies verändern konnten.

Ihre Analysen und Ideen blieben nicht fruchtlos; sie sanken, zum großen Ärger der Herren, wie Samen in das kollektive Verständnis der planetarischen Zivilisation und führten an einigen Fokalpunkten der Raumzeitachse des Planeten bereits zu ersten Versuchen, auch mit der kollektiven Organisation der menschlichen Gesellschaften den Möglichkeiten einer intelligenten Spezies näherzukommen.

Diese Versuche, die – wie wir aus der Geschichte der galaktischen Entwicklungsbögen wissen – immer erst gegen Ende der barbarischen Frühphase einer Zivilisation eintreten, die also im Falle des dritten Planeten noch sehr jung und neu sind, wurden in einem Falle von der alten Herrschaft – allerdings nach einem Zeitraum, der der Lebensdauer eines Erdlinge entsprach – erfolgreich wieder rückgängig gemacht.

Ein weiterer Versuch begann vor ebenso langer Zeit – einem Menschenalter – in derjenigen Oberflächenregion, die nicht nur die älteste Zivilisation, sondern auch die höchste Einwohnerzahl des Planeten aufweist. Als interstellare Beobachter kommen wir nicht umhin, dieses im Vergleich zu den vorherigen Versuchen höchst durchdachte, flexible und für die terrestrischen Verhältnisse völlig neuartige Projekt als eine realistische Option einzuschätzen; die in der besagten Oberflächenregion aktiven Gattungsvertreter haben die ersten Schritte unternommen, um die humanoide Spezies des dritten Planeten aus der barbarischen Phase herauszuführen und könnten in wenigen Jahrzehnten die Mindestanforderungen an die galaktischen Standards der Intelligenzentwicklung erfüllen.

Da sich in absehbar kurzer Frist das Raum-Zeit-Portal wieder öffnen wird um meine Rückkehr in die Zeitlosigkeit zu erzwingen, werde ich den Bericht über die Erfolge oder Misserfolge der zivilisatorischen Entwicklung des besagten kleinen Planeten in jenem abgelegenen Sonnensystem anderen Zeitreisenden überlassen müssen. Solange ich kann, verfolge ich die erstaunlichen Wendungen der hiesigen Humanoiden jedoch mit einer Mischung aus Faszination, Abscheu und Respekt vor ihrem Potential.