Geschichten aus dem Pflegeheim: „Wir haben das alles schon einmal erlebt.“

Seit kurzem kümmere ich mich wieder verstärkt um die kulturelle Bildung der Bewohner der Pflegeeinrichtung, in der ich arbeite, indem ich ein bis zweimal monatlich ein literarisches Café veranstalte. Das ist ein etwas anspruchsvoller Name für eine Vorleserunde, die ich aber mit der Auswahl interessanter, dem Anlass und dem Klientel entsprechender Literatur, netter Musik und intensiver Gemütlichkeit würze, so dass meine Schützlinge idealerweise davon bereichert werden.

Heute halte ich die Gelegenheit für günstig, um mal Kurt Tucholsky vorzustellen und zwei kürzere Texte von ihm vorzulesen:
Einen in der „Weltbühne“ veröffentlichten humorvollen, aber extrem pessimistischen Text namens „Der Mensch“, sowie das letzte Kapitel eines Buches, das Tucholsky zusammen mit John Heartfield im Jahr 1929 herausgebracht hat. Letzteres hat den spaßhaften – oder soll man sagen: zynischen – Titel „ Deutschland, Deutschland über alles“.

Würde dieses Buch heute erscheinen, wäre es kein Buch, sondern ein Blog, mit einer Fülle von Filmen, Collagen, Karikaturen, Gedichten, Persiflagen, Texten, politischen Betrachtungen, Polemiken und dergleichen. Es war von Machart und der Kombination verschiedener literarischer Gattungen, kombiniert mit dem künstlerischen Input von John Hartfield, seiner Zeit weit voraus. Tucholsky und Heartfield sahen kommen, was wenige Jahre später eintreten würde.

Jedenfalls heißt das letzte Kapitel Heimat und enthält unter anderem solche Textpassagen:

„Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich «national» nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da. Sie reißen den Mund auf und rufen: «Im Namen Deutschlands …!» Sie rufen: «Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.» Es ist nicht wahr. Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es. Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land.“

Oder:

„Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitsliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn «Deutschland» gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden. Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.“

Die Wirkung des Textes auf die Zuhörerschaft – Leute im Alter von Mitte 70 bis 104 Jahren – ist erstaunlich. Alle hören gebannt und fasziniert zu, und als ich zum Schluss frage, was sie von dem Gehörten halten, wie es auf sie gewirkt habe, bekomme ich mehr Antworten und Feedback, als ich von anderen Angeboten dieser Art gewohnt bin.

„Das macht sehr nachdenklich, dieser Text“ kommentiert Frau T., die eine Demenzdiagnose hat, in diesem Moment aber hellwach und tatsächlich nachdenklich wirkt.

„Wir haben das ja erlebt und mitgemacht!“ bekomme ich von etlichen der fünfzehn oder sechzehn Anwesenden zu hören. Es ergibt sich ein Hin und Her aus persönlichen Geschichten, kleinen Anekdoten, und teilweise sehr präzisen Erinnerungen aus der Zeit, als die Anwesenden Schulkinder oder Teenager waren, also in den späten 1930er und in den 1940er Jahren.

„Und jetzt geht es ja schon wieder los…“, bemerkt die 87-jährige Frau K. Einige nicken oder machen bestätigende Bemerkungen.

„Wie finden Sie das denn, mit ihrer Lebenserfahrung, dass jetzt wieder zum Krieg gegen Russland gerüstet wird? Halten Sie Russland für eine Bedrohung?“ frage ich jetzt direkt die Leute. Zu meinem Erstaunen gibt es keine einzige bejahende Antwort. Die Reaktionen variieren zwischen „ Das ist doch Quatsch“, „Wer glaubt denn sowas?“ und „Die haben keinen Krieg erlebt, die wissen nicht, was das ist. Die wollen nur ihre Vorteile und ihre Macht…“

Besonders die in dem letzten Zitat ausgedrückte schlechte Meinung von der Politik bzw den Politikern teilen scheinbar alle. Ich bin jetzt neugierig geworden und stelle eine Anschlussfrage: „Und? Was meinen Sie, kann man da was machen? Kann man das denn aufhalten, wenn das so erkennbar wieder in dieselbe Richtung geht?“

„Die da oben machen, was sie wollen und die Leidtragenden sind wir“ ist der Tenor, in den alle einstimmten. Diese Leute in ihren letzten Lebensjahren, in ihrer Mehrzahl hochaltrige Menschen, wirken auf eine traurige, ernüchternde und schmerzhafte Weise realistischer als sämtliche Kriegsprediger in Politik und Medien.

Da ich merke, dass das Thema viele emotional einigermaßen mitnimmt und die Atmosphäre ein bisschen gedrückt wird, schlage ich vor, dass wir die stimmungsverderbende Politik jetzt erst mal sein lassen und dafür Musik hören. Und zwar Musik, die zu der Zeit passt, als Tucholsky diese Texte verfasst hatte – und als die Anwesenden alle jung waren. Das finden sie natürlich klasse und nach einiger Diskussion einigen wir uns auf ein Potpourri mit den Hits der Comedian Harmonists. Die kennen alle, und so singen dann auch fast alle lauthals mit, als Harry Frommermann, Robert Biberti, Roman Cycowski, Ari Leschnikoff und Erich A. Collin einer fiktiven Veronika vorsingen, dass der Lenz da wäre und der Spargel wachsen würde.

Das rundet dieses Nachmittagsangebot versöhnlich ab; einige der Teilnehmer bedanken sich anschließend für die Lesung und die Gespräche.