Geschichten aus dem Pflegeheim: Schwarz und Rot

In meiner wöchentlichen Mal-und Kreativrunde sind unter den acht bis zehn Bewohnern, die regelmäßig teilnehmen, drei mit sehr stark eingeschränktem Sehvermögen. Alle drei – hochbetagte Damen um die Neunzig – haben noch maximal 10% Sehkraft und erkennen mehr schlecht als recht ihre Umgebung. Hinzu kommt, dass sie auch die Farben von Stiften, Farbtöpfchen, Tuben usw. nur mit Schwierigkeit auseinanderhalten können – diese sind einfach zu klein, als das sie für Sehbehinderte klar erkennbar wären.

Nachdem mir eine der Damen wieder mal ihr Leid geklagt hat (nicht weinerlich oder im Beschwerdetonfall, sondern faktisch und sachlich) habe ich die Idee, dann eben mit den Methoden und Materialien zu arbeiten, die noch am ehesten ihrer speziellen Einschränkung entgegen kommt: „Heute reduzieren wir alles mal aufs Wesentliche“ verkünde ich meiner Künstlertruppe zu Beginn des Angebotes.

„Heute gibts nur zwei Farben, Rot und Schwarz! Sie bekommen die dicksten, fettesten Filzstifte, die wir haben und ein riesiges Blatt Papier – das müsste selbst für die, die nicht gut sehen können, kein Problem sein. Die Kontraste sind kräftig genug, dass auch Halbblinde sie sehen können!“

Um der üblichen Frage vorzubeugen, „was wir heute malen“, erkläre ich allen, dass es keine Vorgaben gibt, dass es sogar erwünscht ist, sich an keine konkreten oder gegenständlichen Formen zu halten. Jeder soll einfach drauflos zeichnen, so wie es ihm oder ihr gerade einfällt.

„Und wenn Ihre Hand zittert oder zuckt, dann lassen Sie sie zittern und zucken, was das Zeug hält! Dann ist DAS eben die Zeichnung, die Sie heute machen!“, versuche ich meinen Schützlingen Mut zu machen, sich komplett planlos ins freie Zeichnen zu versenken und alle Vorstellungen von Gegenständlichkeit zu vergessen.

Das ist einfacher gesagt als umgesetzt, denn auch nach vielen Jahrzehnten steckt in den Leuten immer noch der verhängnisvolle Leistungsdruck aus dem Kunstunterricht, der darin bestand, irgendwelche Vorgaben umzusetzen bzw. Objekte abzumalen.

Schließlich aber finden alle den Weg in die nicht kartographierte unbekannte Landschaft der assoziativen freien Zeichnerei; nach anfänglichem Zögern macht es ihnen immer mehr Spaß und als wir zum Schluß für eine spontane Mini-Ausstellung die gesammelten Bilder mit Tesa an der Wand befestigen, stehen die Teilnehmer (bzw. sitzen in ihren Rollstühlen) voller Respekt vor ihrer eigenen Kreativität und mit nicht gelindem Stolz vor den Bildern.