Die Frau, die seit einiger Zeit und zu ihrem großen Verdruss wieder 50% ihres Vollzeitjobs in den Büros ihres finanzkapitalistischen Arbeitgebers verbringen muss, sitzt im Homeoffice vor ihrem Monitor.
Nach einem „Video Call“ mit einer Kollegin vor Ort stürmt sie in einer Mischung aus Ärger und Amüsement aus dem Arbeitszimmer und konstatiert: „Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf!“
Ich erfahre, dass der Versicherungskonzern, für den sie arbeitet, beschlossen hat, die Temperaturen in den Großraumbüros auf 19 Grad abzusenken und den Mitarbeitern empfiehlt, sich mit wärmerer Kleidung gegen die Temperaturabsenkung zu wappnen. Auch das Warmwasser werde büroweit abgestellt. Die Mitarbeiter sollten sich hinfort die Hände mit kaltem Wasser einfach länger waschen, wegen der Hygiene. Die 50%ige Anwesenheitspflicht dagegen werde nicht angetastet.
Meine Liebste schwankt zwischen Empörung und trotziger Entschlossenheit: „Mir war das jetzt schon immer zu kalt dort! Wenn die das noch kälter machen, bin ich eben dauerkrank. Ich glaub’ es hackt!“
Ich bin natürlich voll solidarisch und sinniere, wieviele Büroangestellte wohl ähnliche Überlegungen anstellen. Wahrscheinlich wird es zusätzlich zu den absehbaren Firmenpleiten und der generellen Deindustrialisierung eine Menge Lohnabhängiger geben, die auf die neuen (kälteren) Umstände mit erhöhtem Krankenstand reagieren oder vorsichtshalber der Arbeit lieber gleich fernbleiben.
Der Konzern, der seinen Mitarbeitern diese Sparmaßnahme verordnet, appelliert an die Einsicht der Belegschaft und die „Solidarität“ – mit WAS, sagt er natürlich nicht. Dass all diese Maßnahmen erforderlich sind, weil der Staat – dessen ultima ratio, die optimale Verwendung und Vermehrung von Kapital, insbesondere von finanzkapitalistischen Konzernen und institutionellen Großanlegern wie dem Arbeitgeber meiner Liebsten geteilt wird – beschlossen hat, Krieg zu führen, und auch noch gegen ausgerechnet das Land, das ihm bisher zuverlässig, billig und langfristig Gas geliefert hat: das darf natürlich nicht erwähnt werden.
„Wir“ sind in einer Notlage, in die „uns“ mal wieder unerklärliche, schicksalhafte Umstände geführt haben, an denen aber im Zweifel auf jeden Fall der Russe schuld ist; noch genauer: ein einzelner Russe, der „Putin“. So lernen Bürger in der Demokratie, ganz demokratisch und freiheitlich aufs Denken zu verzichten und sich so an die Verhältnisse anzupassen, wie es ein gelehriger Marktwirtschaftsuntertan eben gelernt hat: stillhalten, sich einschränken, irgendwie über die Runden kommen, weil man gegen höhere Mächte nichts machen kann.