Frau M., seit knapp einem Jahr Bewohnerin der Einrichtung, liegt im Sterben. Nach zwei Oberschenkelhalsbrüchen hintereinander (auf jeder Seite einer) und den dazugehörigen Krankenhausaufenthalten, außerdem stark dement, ist sie als palliativer Pflegefall und Kandidatin für den Hospizdienst ins Pflegeheim zurückgekehrt.
Zunächst hat sie noch ein bißchen von der Nahrung zu sich genommen, die man ihr anreichte und ließ sich auch lagern und den Mund pflegen – jetzt ist sie seit einer knappen Woche ohne Nahrung und ohne Medikamente in der präfinalen Phase. Ihr Mund steht immer offen und wird ab und zu mit einem Schwämmchen befeuchtet. Geöffnet sind auch ihre Augen, die sie im Wachzustand nicht einmal mehr zum Blinzeln schließt.
Die Pflegekollegen versuchen, sich in ihrem normalen Dauerstress Extrazeit für sie freizuschaufeln; trotzdem liegt sie oft stundenlang alleine in ihrem Zimmer und stirbt vor sich hin. Heute nehme ich mir vor, meine Arbeitszeit der Sterbebegleitung von Frau M. zu widmen.
Ab mittags sitze ich an ihrem Bett, halte ihr die Hand, spiele ihr beruhigende Musik vor und rede gelegentlich mit ihr. Sie ist eindeutig auf den letzten Metern ihrer Lebensreise angelangt; ihre Kraft reicht gerade noch zum Atmen, ihr Atem wird kürzer und schneller. In dieser Phase ist es wichtig, einfach da zu sein und dem Sterbenden durch ruhige Präsenz zu vermitteln, dass das, was ihm widerfährt, der natürliche Lauf der Dinge und nichts zum Fürchten ist.
Da ich nicht weiß, ob sie religiös ist oder nicht, wähle ich meine Worte vorsichtig und eher allgemein. Ich erzähle ihr, dass ich jetzt bei ihr bleibe und dass das, was ihr jetzt passiert, allen Menschen passiert; dass sie jetzt dahin zurückgeht, wo sie hergekommen ist, so wie Wasser sich in Wasser ergießt oder wie eine Wolke sich in den Himmel auflöst…
Ihre Augen schließen sich ein bißchen und eine Träne rollt aus ihrem linken Auge. Inzwischen ist es vier Uhr nachmittags, die Pflege hat Frau M.s Sohn angerufen und ihm gesagt, dass er jetzt kommen müsse, wenn er noch von seiner Mutter Abschied nehmen möchte. Der Sohn hat sich so gut wie noch nie blicken lassen, auch in den letzten Monaten nicht, als ihr Zustand bereits zusehends schlechter wurde.
Auch jetzt mault er zunächst etwas rum, beschwert sich über die Testpflicht, die seinen Besuch erschweren würde und gibt sich alles andere als erfreut, dass man ihn überhaupt anruft. Schließlich höre ich aber von einer Pflegekollegin, dass der Sohn um 18:00 kommen wolle. Ich hätte eigentlich um 17:00 Feierabend, beschließe aber, dass ich Frau M. jetzt nicht alleine lasse und bleibe an ihrem Bett sitzen.
Um kurz vor 18:00 erscheint dann der Sohn. Als die Pflegekraft ihn in das Zimmer seiner Mutter führt, ist er überwältigt und erschrocken vom Anblick der sterbenden Frau. Er weiß sich nicht anders zu helfen als laut herauszuplatzen „Was ist denn das für eine Scheiße hier?!“.
Zögernd und zitternd setzt er sich auf den von mir freigemachten Stuhl und fragt überflüssigerweise, ob es jetzt zu Ende gehe mit seiner Mutter. Dann blickt er uns hilflos an und sagt: „Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll oder machen soll…“
Wir antworten ihm, dass es nicht darauf ankommt, was er sagt oder tut, sondern darauf, dass er einfach da ist, bei seiner Mutter, und dass sie nicht alleine ist in ihren möglicherweise letzten Stunden. Die diensthabende PFK bietet ihm noch an, dass er solange bleiben kann, wie er will und ich mache mich auf den Heimweg.
Auf der Rückfahrt überlege ich, wieso fast alle Leute so hilf- und ratlos angesichts von Tod und Sterbeprozess sind; wie sie es schaffen, dieses Thema so weit von sich wegzuschieben, dass sie völlig überwältigt und nahezu panisch werden, wenn es sie irgendwann und unvermeidlich doch einholt. Und ich frage mich, ob der Besuch ihres Sohnes Frau M. ihren Abschied von dieser Welt erleichtert hat und ob sie morgen noch am Leben ist.
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Edit 24 Std. später:
Frau M. ist kurz nach dem Besuch ihres Sohnes gestern Abend um 21:45 gestorben.