Geschichten die das Leben schrieb: das Alter und der Wein
Die Frau ist kürzlich, anlässlich eines hohen zweistelligen und auch noch runden Geburtstages, schwer ins Grübeln gekommen. Während ich selber in asiatischer Abgeklärtheit die Weisheit Buddhas verinnerlicht habe, nach der im menschlichen Leben generell Leid, speziell aber Alter, Krankheit und Tod zu erwarten ist, hadert meine Herzdame mit dem unabwendbaren Alterungsprozess.
Seit ihrem runden Geburtstag sieht sie sich – obwohl sie etwa 20 Jahre jünger aussieht als gleichaltrige Frauen, kerngesund und rundum eine äußerst attraktive Erscheinung ist – quasi mit einem Bein wenn nicht im Grab, dann aber fast im Rollstuhl oder im Pflegeheim stehen bzw. sitzen und liegen.
Heute lag im Briefkasten mal wieder die monatliche Infoschrift des Weinhändlers unseres Vertrauens, in welcher dieser seine aktuellen Erzeugnisse und Angebote bewirbt und die zu normalen Zeiten Gegenstand ausgiebigen Studiums und anschließender Kaufentscheidungen ist. Scheinbar sind die normalen Zeiten aber jetzt vorbei, denn die Frau läßt sich wie folgt vernehmen, während sie den Werbebrief ungeöffnet in den Papiermüll befördert:
„Mit dem Wein ist jetzt vorbei. Man muß wenigstens gesund leben, wenn man schon alt wird und anfängt, alt auszusehen. Das ist vielleicht eine Scheisse…“
Da ich aber nun mal Praktiker dialektischer Lebensführung bin, gebe ich ihr zu bedenken: „Ja, aber wenn man Wein trinkt, sieht man’s nicht so…“
Da muss sie lachen und räumt ein: „Wo du recht hast, hast du recht!“
Ich genieße diesen seltenen Moment unwidersprochener Meinungsäußerung und beschließe, dass das Werbeheftchen außerhalb des Papiermülls doch besser aufgehoben ist.