Geschichten aus dem Pflegeheim: Warum feiert man dieses “Osterfest”?

In einer diakonischen Einrichtung ist es unvermeidlich, die jahreszeitlichen christlichen Feiertage als Thema aufzugreifen. Es wird sogar erwartet vom Pflege- und Betreuungspersonal; folglich ist der Wochenplan voll von allen möglichen Angeboten rund um das Osterfest der Christen.
Auch an der „Tagesgruppe Demenz“ geht dieser Kelch nicht spurlos vorüber und ich sehe mich veranlaßt, das vormittägliche Beisammensein mit allerlei Schabernack rund um Begriffe wie „Ostereier“, „Osterhase“, „Kreuzigung“ und „Auferstehung“ zu bestreiten.

Zunächst will ich aber mal feststellen, inwieweit meine demente Truppe überhaupt Ostern als religiöses Fest auf dem Schirm hat. Ich frage also in die Runde: „Warum feiern wir denn eigentlich Ostern?“

Ratlose Gesichter schauen mich an. „Ostern“ als Begriff ist allen noch irgendwie bekannt, aber was da gefeiert oder begangen wird, fällt keinem ein.„Wegen den Kindern!“ ruft Frau H. plötzlich. Das öffnet die Erinnerungsschleusen auch bei ein paar anderen. „Damit die die Ostereier suchen können!“ und „Weil der Osterhase  die Eier bringt!“ höre ich.

Ich bin erfreut über die laizistische Einstellung meiner Gruppenteilnehmer, will es aber genau wissen (zumal ich weiß, dass fast alle jede Woche am Gottesdienst teilnehmen, obwohl die meisten da wohl aus Langeweile und Mangel an alternativen Freizeitangeboten hingehen):„Das ist ja ein christliches Fest“, beginne ich. „Weiß jemand, was der Anlass für diesen Feiertag ist?“
Schweigen im Walde.

Herr J. macht sich bemerkbar, indem er sich den Stoppelbart kratzt und den Kopf hin- und her wiegt. Die anderen schauen zu ihm hin, in der vagen Erwartung, dass der einzige männliche Gruppenteilnehmer ihnen nun Erleuchtung verschafft. Die Hoffnung trügt. „Da bin ich überfragt!“, sagt Herr J. kurz und trocken, im Tonfall eines Experten, der dem laienhaften Fragesteller signalisiert, dass die Frage soviel wert ist wie die nach der Anzahl der Sandkörner am Rhein.

Es hilft also nichts, ich muss meinem diakonischen Bildungsauftrag zur Vermittlung der christlichen Grundwerte und der einschlägigen Sagen und Fabeln nachkommen. Ich lese die Ostergeschichte vor, aus einem schon extrem simplifizierten Buch namens „5-Minuten-Geschichten für Menschen mit Demenz“ o.ä. Diese Geschichten sind gar nicht mal übel; in simpler, aber nicht die Zuhörer für dumm verkaufenden Sprache geschrieben.

Natürlich bleibt auch in dieser zusammengedampften Version der Kern des Christenglaubens unberührt: ein junger Jude – dessen Mutter (erste Absurdität) ohne Sex oder väterlichen Beitrag mit ihm schwanger wird – wird als Aufrührer von der römischen Besatzungsmacht und mit Unterstützung des einheimischen religiösen Establishments hingerichtet und steht drei Tage später wieder von den Toten auf.

Meine Zuhörer lauschen gebannt der Geschichte, die ihnen auch irgendwie bekannt vorkommt, sind aber – obwohl sie wohl alle christlich erzogen wurden – nicht restlos überzeugt. Ich hake nach: „Gibt’s das denn, dass ein Toter wieder lebendig wird?“Die Runde schaut mich an, als ob ich gefragt hätte, ob Fische reden könnten.

Jetzt will ich noch herauskriegen, inwieweit die christliche Prägung noch in den mehr oder weniger demenziell veränderten Gehirnen meiner Leute wirksam ist. „Das ist immerhin ein ganz wichtiger Punkt des christlichen Glaubens…“, sage ich.

Die Antwort ist eindeutig: „Das ist doch Quatsch!“, sagt Frau K. Ein paar andere schütteln die Köpfe. „Was ist denn das hier für ’ne Märchenstunde?“ wirft Frau M. ein. Die anderen grinsen zustimmend.

Das Schöne an der Wahrnehmung von dementen Menschen ist, dass sie meistens und im Wesentlichen im Moment leben. Die erlernten Konditionierungen und Gedankengebäude bröckeln, lösen sich auf, verflüchtigen sich – gelegentlich bis hin zu einem Zustand, in dem auf keinerlei soziale Konventionen mehr Rücksicht genommen wird, weil die Erinnerungsbasis für solche übereinkunftliche Verhaltensmuster nicht mehr existiert.

Das ist für die Betroffenen oft mit schmerzhaften (weil unverständlichen) Erlebnissen verbunden und für die Umgebung auch nicht immer einfach. Was die direkte, spontane Äußerung von Empfindungen betrifft – jedenfalls soweit die Demenz noch keinen Zustand erreicht hat, in dem auch die Sprachfähigkeit verschwindet – sind demente Menschen allerdings eine ergiebige Quelle schonungslos ehrlicher, oft sehr humorvoller bis drastischer Kommentare, Anmerkungen und Einsichten.