Geschichten aus dem Pflegeheim: Impfnebenwirkung, Russen und Antifanten

Das Aufstehen zum Wochenenddienst fällt mir heute schwer: die gestrige dritte Impfung hat mich mehr mitgenommen als erwartet und ich erwache schweissgebadet und mit Kopfschmerzen aus der Hölle. Normalerweise würde ich mich jetzt krankmelden, aber dann würde ich zum zweiten Mal hintereinander den 14-tägigen Frühschoppen ausfallen lassen – eines der beliebtesten Angebote im Haus und ein Highlight für die betagten Recken der Theke, die sich ab 10:00 in meiner improvisierten Kneipe versammeln und sich auf eine muntere Runde Tratsch bei Bier, Cola und Salzgebäck freuen.

Ich beschließe, dass ich das meinen Leuten nicht antun kann, zumal am Wochenende das Angebot sowieso schon ausgedünnt ist. Ich rufe also die diensthabende Kollegin im Wohnbereich an und teile ihr mit, das ich erstens nur bedingt fit bin und später komme, dass ich aber das Vormittagsangebot machen werde. Da ich zum Glück keinen außerplanmäßigen Küchendienst aufgedrückt bekommen habe (fast schon erwartbare Zumutung für Mitarbeiter des Sozialen Dienstes, da alle naslang irgendein Hauswirtschafts- oder Pflegekollege durch Krankheit oder Burn-Out ausfällt), dürfte das kein Problem sein.

Kollegin E., die ich am Telefon erwische, gibt sich jedoch überrascht und genervt: „Du stehst auf unserer Liste für die Küche!“. Mit fällt beinahe das Telefon aus der Hand. Darüber hatte mich keiner informiert, die PDL hat anscheinend schlicht versäumt, diese Änderung des Dienstplanes zu kommunizieren. „Kannst du vergessen“, sage ich zur Kollegin. „Ich schaff es körperlich nicht, außerdem weiß ich nichts davon. Ich mach mein Angebot und sonst nichts. Ich kann euch ein bißchen helfen, aber ich stell mich nicht in die Küche.“

Ja, der Soundso wäre in Quarantäne geschickt worden, weil seine Verwandtschaft Omikron hat und jetzt ist halt keiner für die Küche da, erläutert die Kollegin. Sie selbst kann auch nichts dafür, an ihr als einziger PFK bleibt aber alles hängen – zusätzlich zur stressigen Tatsache, dass sie mit zwei Pflege-Schülerinnen die mehr als zwanzig anwesenden Bewohner des Wohnbereiches versorgen muss. Wochenende eben.

Ich lasse mich auf keine Diskussionen ein, informiere sie, wann ich da sein werde und lege auf. Sofort meldet sich mein schlechtes Gewissen, mein Bewusstsein der Erpressbarkeit mit dem Wohl der Leute und mit der Solidarität gegenüber den Kollegen, das fast alle in diesem Berufsfeld kennen. Wenn ich die Arbeit nicht mache, bleibt sie an den Kollegen hängen, die ohnehin schon überlastet sind. So geht man oft halbkrank und kaputt zur Arbeit, um Kollegen und Bewohner nicht im Stich zu lassen.

Als ich eine Stunde und zwei Schmerztabletten später in der Einrichtung erscheine, meinen obligatorischen COVID-Test gemacht habe und mich auf den Wohnbereich begebe, stellt sich die Situation entspannter dar als erwartet. Im Speisesaal, der sonst um diese Zeit voll ist, sitzen erst zwei Personen (das ist eindeutig der Personalsituation geschuldet: es ist nicht möglich, mit drei Pflegekräfte – zwei davon Azubis – die Bewohner einigermaßen zeitnah fürs Frühstück fertig zu machen). Vor allem aber und zu meinem Glück ist heute die kroatische Küchenperle M. mit dem Essenswagen aus der Küche unterwegs. Bei ihr habe ich einen dicken Stein im Brett und sie versichert mir, dass sie die Küche schon nebenher gemanaged kriegt, damit ich mein Angebot durchführen kann. Ich solle nur dann und dann mal die Spülmaschine befallen und ausräumen, ansonsten würde sie sich kümmern.

So kann ich mich dem Frühschoppen widmen und der Herstellung professioneller Gemütlichkeit unter Berücksichtigung der Eigenarten meines Klientels. Letzteres besteht bei diesem Angebot fast ausschließlich aus orientierten Personen; unsere dementen Bewohner verirren sich höchstens mal aus Langeweile oder Neugier in den „Kneipenraum“. Meistens verlassen sie uns dann schnell wieder, wenn sie den Gesprächen nicht folgen können. Manche Demente haben allerdings auch das unerschütterliche Sitzfleisch von Leuten, die sowieso in ihrer eigene Welt leben; den Versuch, in dem Gerede um sie herum einen Sinn zu entdecken, haben sie längst aufgegeben.

Heute besucht uns – allerdings schon gegen Ende des Frühschoppens – die sehr demente Frau Sch. aus meiner „Tagesgruppe Demenz“. Sie stößt mit ihrem Rollator ein paar mal gegen die geschlossene Glastür und versucht, diese aufzudrücken, bevor ich aufspringen und ihr öffnen kann. „Was ist hier denn los?“ fragt Frau Sch. „Findet hier irgendwas statt?“ DASS etwas stattfindet, sieht sie selbst, aber sie hofft auf die gewohnte Abwechslung der „Tagesgruppe“, die im selben Raum stattfindet: eine Unterbrechung ihrer beunruhigenden inneren Welt aus rapide zunehmender Vergesslichkeit, diffuser Unruhe und beständiger Angst, etwa falsch zu machen, nichts unter Kontrolle zu haben und nicht zu wissen, wo sie ist oder hin muss.

Ich bitte sie herein, erkläre ihr, was hier gerade stattfindet und biete ihr ein Glas Malzbier an. Sie freut sich und setzt sich auf einen freien Platz. Die anderen missbilligen eigentlich solche Störungen, haben aber im Pflegeheim genug Toleranz mit ihren dementen Mitbewohnern gelernt um nichts zu sagen.

Das Gespräch ist noch einer ausgiebigen Erörterung des Bundesliga-Spieltages und eines anderen Dauerthemas, den aus den Wäschesäcken verschwundenen Kleidungsstücken der Bewohner, bei den Politik gelandet und zu meiner Überraschung läßt sich jetzt die üblicherweise stille Frau L. mit einem längeren Beitrag zur „Ukraine-Krise“ vernehmen. Durch die Vorgänge dort sei in hohem Maße der Frieden gefährdet, woran ausschließlich der Russe schuld sei. Man müsse ja hoffen, dass „Putin nicht die Ukraine besetzt“, der würde mit dem Säbel rasseln und wäre unberechenbar, und „sogar die NATO kann den ja nicht zum Frieden bewegen!“

Die anderen Politiksachverständigen aus der Generation der Ostlandkrieger nicken zustimmend und sind sich darüber einig, dass dem Russen mal wieder und nach wie vor nicht zu trauen ist. In der Regel halte ich mich mit politischen Aussagen zurück und lasse die Leute erstmal reden, diskutieren und ihre Meinungen zum Besten geben. Jetzt aber gebe ich Frau L. zu bedenken, dass man nicht alles glauben könne, was in Zeitungen und im Fernsehen so behauptet wird.

Herr T. neben mir, der mich schon immer im Verdacht hat, ein verkappter Kommunist zu sein, sieht seinen Moment gekommen: „Aha!“, ruft er aus, „jetzt geht’s wieder um Sozialismus und Kapitalismus!“. Er weiß aber nichts zu sagen, als ich ihn darauf hinweise, dass Russland kein sozialistisches Land mehr ist, sondern dort Kapitalismus herrscht wie bei uns. Ich wende mich wieder an Frau L. und bitte sie, sich die Sache mal umgekehrt vorzustellen: Russland und China hätten mit Miltärbasen und Truppen in Mexiko, Kanada, Kuba und per Flugzeugträgern und Kampfschiffe vor der amerikanischen Küste USA eingekreist – entgegen allen Absprachen und als permanente Bedrohung, die auch noch jedes Jahr mit riesigen Miltärmanövern verstärkt wird.

Frau L. hört aufmerksam zu und wirkt nachdenklich. „jetzt stellen Sie sich mal weiter vor, Sie als USA bewegen angesichts dieser massiven Bedrohung IN IHREM EIGENEN LAND ein paar tausend Truppen – jedenfalls weit weniger als die ständig präsenten gegnerischen Militärverbände – sagen wir an der mexikanischen Grenze in Texas oder an der kanadischen in Minnesota. Und daraufhin behaupten russische und chinesische Medien, SIE würden mit dem Säbel rasseln und einen Angriff auf Mexiko oder Kanada planen. Würden Sie denen glauben?“

So hat Frau L. die Sache noch nicht betrachtet. Auch die anderen sind vielleicht nicht gleich von ihrer latenten Russophobie geheilt, aber die Umkehrung der Sichtweise scheint ihnen einzuleuchten. Selbst Herr T., ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, vertieft das Thema nicht weiter.

Die nur dezent demente Frau R., die bis jetzt entspannt vor ihrem Bier sitzt und sich alles anhört, meldet sich mit dem abschließenden und definitiven Statement grundsätzlicher Art: „Ach, was können wir kleinen Pisser denn schon machen?!“. Damit hat sie der Runde wohl aus dem Herzen gesprochen, denn allgemeines Kopfnocken und Kommentare wie „Genau!“ und „Ja, so isses!“ sind die Reaktion.

Unsere Besucherin Frau Sch. hat sich schon gleich zu Beginn der Politisierei verabschiedet; sie wurde schon nach zwei Sätzen von Frau L. unruhig und wollte wieder gehen. „Ich versteh das nicht, was sie sagen“, ist ihr Kommentar. Wir sind sowieso am Ende unserer Runde und ich läute mithilfe unserer offiziellen Stammtischglocke unseren heutigen Frühschoppen aus. Alle bewegen sich und ihre Rollatoren und Rollstühle in Richtung ihrer Wohnbereiche oder des Großen Speisesaals, denn in 40 Minuten ist schon wieder Mittagszeit.

Während ich aufräume, erscheint Lieblingskollegin C., wie ich im Sozialen Dienst der Einrichtung beschäftigt, und verspricht mir, mich beim Aufbau meines morgigen Angebotes zu unterstützen. Sonntags findet nämlich 14-tätig planmäßig das „CafeKay“ statt, für das ich den Gruppenraum so gut es geht in ein Wiener Kaffeehaus verwandle, die Tische festlich mit Retro-Geschirr eindecke und meinen Kaffeevollautomaten mit Cappuccino und Espresso zum Glühen bringen. Der Aufwand, der für diese 90 Minuten Angebot zu treiben ist, sprengt das normale Maß um einiges, so dass erstens an einen parallelen Küchendienst nicht zu denken und zweitens die Hilfe mehr als willkommen ist.

Nebenher erzählt mir die Kollegin, dass sie wieder zur Demo gegen die Corona-Maßnahmen noch Düsseldorf fahren wird – mit ihrer ganzen Familie. Ihre Erwachsenen Kinder arbeiten wie sie im Sozial- und Pflegebereich. „Da sind immer mehr Pflegekräfte dabei“, berichtet sie mir; „Weißt du, das sind alles ganz normale, liebe Menschen. Von Nazis und rechten Idioten ist da nichts zu sehen. Am lächerlichstem sind die Gegendemonstranten. Da stehen dann immer ein paar Antifanten am Rand und beschimpfen uns. Aber wir bleiben immer ganz freundlich und lassen uns nicht provozieren.“

Sie erzählt mir noch, dass auch in Neuss jetzt jeden Montag Spaziergänge stattfinden, bei denen Leute, die gegen die Coronapolitik der Regierung sind, gemeinsam durch die Stadt schlendern. „Ich bin keine Impfgegnerin“, sagt mir die Kollegin, die selber aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden kann (ein entsprechendes Attest ihres Arztes wird sie auch vor dem Berufsverbot für Ungeimpfte bewahren, die ab 15. März in den Pflegeheimen in Kraft treten). „Ich bestreite auch nicht die Realität der Pandemie. Aber was die Regierung unter dem Deckmantel der Schutzmaßnahmen macht, ist eine Einschränkung unserer Rechte, die zu weit geht. Und so denken auch alle, die ich kenne und die an diesen Demos und Spaziergängen teilnehmen.“

Abkürzungen: PDL = Pflegedienstleitung, PFK = Pflegefachkraft