Geschichten aus dem Pflegeheim: der Fauxpas

Während des schweißtreibenden Aufbaus eines Angebotes im Garten der Einrichtung für ca. 40 Bewohner erscheint der Einrichtungsleiter in Begleitung eines Besuchers, beide vorschriftsmäßig maskiert und erkennbar in wichtiger Mission unterwegs, vermutlich um das Gelände für den geplanten Neubau zu begutachten.

Der Besucher trägt teure Freizeitkleidung und begrüßt mich mit „Guten Tag!“, als er an mir vorbeikommt, während ich einen Getränkewagen über die Terrasse schiebe.

Hi!“ antworte ich kurz angebunden, registriere die etwas verblüffte Reaktion des Fremden, und schiebe weiter, da die Veranstaltung in Kürze beginnt und noch jede Menge zu tun ist. Angebote im Garten sind in Corona-Zeiten extrem wichtig und beliebt, weil dies die einzige Gelegenheit ist, bei der wohnbereichsübergreifend alle Bewohner zusammenkommen dürfen – allerdings selbst draußen nach Wohnbereichen getrennt. Dennoch schätzen die Heimbewohner solche Veranstaltungen, die eine seltene Unterbrechung des nun schon ein halbes Jahr andauernden Ausnahmezustandes sind, in den die strengen Corona-Maßnahmen den Heim-Alltag versetzt haben.

Eine Stunde später: ich bin mit dem Rücktransfer der zahlreichen zufriedenen Bewohner beschäftigt. Während ich eine Rollstuhlfahrerin zum Aufzug im Foyer schiebe, erscheint der Einrichtungsleiter in der Tür seines Büros und winkt mich herbei. „Kommen Sie doch bitte gleich mal kurz rein!“ ruft er mir zu.

Ein paar Minuten später betrete ich sein Büro, setze mich auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch und bin ganz Ohr.

Der Mann, mit dem ich vorhin im Garten war – kennen Sie den?“, beginnt er.

Nein, keine Ahnung.“, antworte ich. „Noch nie gesehen. Hab mir allerdings gedacht, dass das irgendein wichtiger Mensch sein muss, so teuer, wie der gekleidet war!“

Das war Herr L., unser oberster Chef, der neue Diakonievorstand. Da kam das nicht so gut, dass Sie ihn einfach mit `Hi!` begrüßen…“

Ich muß grinsen, weil mir natürlich die hierarchischen Strukturen des Ladens bekannt sind und meine Begrüßung tatsächlich leicht genervt und im Stress dahingemurmelt war. Andrerseits ist mir zwar bekannt, dass die Diakonie Rhein-Kreis Neuss seit Januar einen neuen Vorstand hat, aber getroffen oder gesehen habe ich ihn noch nie.

Chef, Sie hatten beide Masken auf…“, raffe ich mich zu einer Antwort auf, „ich kann ja schlecht bei jedem mir unbekannten Besucher sagen `Ziehen Sie doch mal Ihre Maske ab, damit ich nachsehen kann, ob ich sie nicht in irgendeinem Diakonie-Heft gesehen habe und Sie vielleicht eine wichtige Person sind`… außerdem war ich wirklich im Stress mit den Vorbereitungen da draußen, das haben Sie doch gesehen…“

Der Chef grinst ebenfalls und meint: „Ja, das hab ich ihm auch gesagt. Der hat natürlich gleich gefragt, was das für ein Mitarbeiter gewesen ist. Ich hab ihm gesagt, dass das der Herr Strathus ist, der mit den Kunstprojekten, und dass der gerade im Stress war. Ich hab’s also abgebogen. Aber ich wollte es ihnen doch gesagt haben, dass das nicht gut ankam mit dem `Hi`…“

Ich überlege kurz, ob ich ein gewisses Maß an Zerknirschung vortäuschen soll, zumal ich nächstens mal wieder eine Überprüfung meiner Lohneinstufung anzumelden gedenke, was auf jeden Fall beim Vorstand landen wird. Ich lass es bleiben, trolle mich und sinniere über die Lächerlichkeit einer Arbeitswelt, in der die Oberen die Unteren nicht nur so knapp wie irgend möglich halten, sondern dafür auch noch die Einhaltung der sozialen und einkommensmäßigen Hierarchie durch respektvoll-devote Anrede erwarten.