Die Lage in den Pflegeeinrichtungen ist momentan nicht einfach für die Bewohner (von den Mitarbeitern will ich gar nicht erst sprechen). Natürlich sehen alle die Nachrichten und wissen von den drastischen Einschränkungen; am meisten spüren sie es aber durch das Zutrittsverbot für Externe. Keine Angehörigen und Freunde mehr zu Besuch, keine Physiotherapeuten, keine Fußpflege, keine Friseurin, keine Auftritte von Musik- oder Tanzgruppen, kein Hospizdienst, keine Betreuer, keine Ehrenamtlichen.
Die Orientierten unter den Bewohnern fügen sich in die Situation; von manch einem hört man „Da haben wir schon schlimmere Zeiten mitgemacht!“ und Ähnliches. Mal sehen, wie das in ein paar Wochen sein wird.
Für die Dementen ist die Lage schwieriger. Sie verstehen nicht (oder kaum), warum jetzt plötzlich keiner mehr kommt. Dabei brauchen gerade die dementen Bewohner das am meisten.
Da eine meine wenigen Gaben in diesem Leben neben einem ausgeprägten sozialen Hau darin besteht, kleine Kritzeleien anzufertigen, nutze ich diese bei fast jedem Angebot, das ich im Rahmen des Sozialen Dienstes der Einrichtung durchzuführen habe. In Zeitungsrunden oder sonstigen Gruppenangeboten für die Orientierteren unter meinen Leuten ist das Coronavirus-Thema natürlich unvermeidlich. Hier wird nicht in die Tiefe gegangen, sondern einfach und anschaulich informiert, was die Maßnahmen der Regierung bedeuten (Bild 1).
Anders in der „Tagesgruppe Demenz“. Die neun leicht und mittelschwer demenzkranken Menschen hier können mit faktischen Informationen zu aktuellen Entwicklungen wenig anfangen. Am besten kommen Geschichten und Lieder an, und zumindest für die Zeit unseres Zusammenseins von Morgens bis Mittags will ich meiner Truppe gar nicht erst mit den Schauergeschichten der pandemischen Realität außerhalb der Einrichtungsmauern kommen.
Wir beschließen nach dem Frühstück, auf den Tischen Papier auszurollen und ein gemeinschaftliches Frühlingsbild zu malen. Von acht anwesenden Gruppenteilnehmern machen sieben auch mehr oder weniger engagiert mit, manche mit erkennbaren Abbildungen von Dingen wie Blumen, Bergen, Wolken, Sonne usw.., für andere ist alleine die Handhabung eines Stiftes schon Herausforderung und Leistung zugleich.
Frau H. malt mit Begeisterung kantige Strukturen, die Lageplänen oder Konstruktionszeichnungen ähneln und fragt mehrfach verwundert: „Was ist das denn jetzt? Ich weiß gar nicht, was das sein soll!“
Frau C. hält mit Erstaunen über sich selbst einen Stift in der Hand und beginnt, sachte und ohne viel Druck mit dem Farbauftrag. Sie malt da, wo ihre Hand hinreicht, und da sie im Rollstuhl sitzt, ist das die Tischkante. Nach fünf Minuten in denen ich mich anderen zuwende, sehe ich Frau C. wie sie immer noch malt und malt, mittlerweile aber auf der Armlehne ihres Rollstuhles. Noch eine Weile später malt sie mit denselben sanften, gleichmäßigen Strichen in der Luft.
Frau K., die beim Sprechen mit jedem Wort eines Satzes leiser und langsamer wird und die noch vor Ende des Satzes vergessen hat, was sie sagen will, malt ein paar winzig kleine Musterungen auf das Papier vor ihr. Sie gerät aber wohl mit dem Malen in eine ähnlich zeitlupenmäßige Verlangsamung wie mit dem Sprechen, ihre Hand wird immer langsamer, die Striche kürzer und schließlich bleibt die Hand auf dem Papier liegen wie eine Spieluhr, deren Antriebsmechanismus sich erschöpft hat.
Sie beobachtet das Geschehen aber interessiert, und so setze ich mich zu ihr. Wir erfinden eine kleine Frühlingsgeschichte, nämlich die von Rudi der Raupe, die ein frisches grünes Blatt gefunden hat und jetzt ihren Mordshunger stillen will. Da kommt von der anderen Seite Anton die Waldameise heran, ein ausgesprochen fieser Vertreter seiner Gattung, und will Rudi das Blatt streitig machen. Frau K. ist erfreut und lacht über den sympathischen Rauperich, aber auch etwas erschreckt über die gemeine Ameise. (Bilder 2 und 3)
Ende vom Lied: alle kriegen was ab, keiner kommt zu kurz, der Gerechtigkeit im Wald und auf der Welt ist mal wieder Genüge getan und alle sind bester Laune, als wir mit unserem großen gemeinsamen Frühlingsbild als Tischdecke den Mittagstisch eindecken.


