Corona, Masken etc.: ein Facebookpost und ein Kommentar

FB-Posting von Udo Theis:

„Christoph Sieber

Ich teile so gut wie nie die Texte anderer. Heute mal eine Ausnahme. Ein unbekannter Leser/ eine unbekannte Leserin hat auf Zeit-Online einen Artikel zur Berliner Demo kommentiert.

Treffender kann man es kaum formulieren:

In Berlin haben die Leute nicht gegen Corona-Regulierungen demonstriert. In Berlin haben Menschen für Ihr Recht demonstriert, von der Komplexität der Welt überfordert zu sein.

Gegner einer Impfung, die es noch gar nicht gibt, verhutzelte Rentnerinnen, die im Rausch der Euphorie den Tag der Freiheit ausrufen, Menschen die tatsächlich glauben, die Maskenpflicht würde dadurch sofort abgeschafft. Die Journalistin Hayali wird bepöbelt, sie hätte die Versammlung auflösen lassen. Langhaarige Rocker und Metalfans tragen die Flagge eines Reichs umher, in dem sie für ihre Frisur zusammengeknüppelt worden wären und in der die Impfpflicht polizeilich durchgesetzt wurde. Thor Steinar T-Shirts und Pegida-Schilder. Und irgendwo sitzt eine junge Frau in Hippie-Klamotten mit einem Schild auf dem Rücken: „Deutschland braucht Jesus“.

Ich äußere mich nur deshalb zu diesem kollektiven kognitiven Vollversagen, weil ich auch hier zwei Aspekte wiedererkenne. Zwei Aspekte, die mir in meiner Arbeit ständig begegnen.

Zum einen vermittelt das Netz 2.0 den Eindruck, dass wir alle wichtig sind. In unserer Sucht nach Anerkennung und Relevanz verlieren wir aus den Augen, dass wir nur Ameisen in einem Haufen sind.

In der Egozentrik des Zeitgeistes und mit der Fähigkeit jeden Hirnfurz über Social Media öffentlich machen zu können, haben wir aus den Augen verloren, dass wir selber außerhalb unseres persönlichen Umfeldes für andere Menschen keinerlei Relevanz haben.

Und zum anderen der Verlust eines demokratischen Miteinanders.

Wir reden uns Bedeutung und Freiheiten ein, die wir nie hatten. Und als kleinster Teil einer Gesellschaft niemals haben werden. Denn wenn wir demokratisch leben wollen und die deutliche Mehrheit will, dass ich eine Maske trage, dann habe ich verfickt nochmal eine Maske zu tragen.

Das und nichts anderes bedeutet Demokratie. Und deshalb ist es auch vollkommen gleichgültig, ob da nun 20.000 Menschen öffentlich ihre Egozentrik zur Schau gestellt haben oder eine Million.

Entscheidend in einer Demokratie ist nicht gegen etwas zu sein. Sondern für etwas. Man muss Alternativen anbieten, Lösungskonzepte, in den politischen Diskurs gehen. Und zwar nach den Regeln der Gesellschaft, deren Demokratie man einfordert und die man mitgestalten will.

Genau deshalb ist Pegida gescheitert. Und genau deshalb wird die AfD langfristig keine politische Wirkkraft entfalten. Und deshalb wir nie etwas dabei herauskommen, wenn Impfgegner sich mit freiheitsliebenden Rentnern, Rechtspopulisten und fundamentalchristlichen Hippies zusammentun.

Und sie werden an ihrem Dunning-Kruger-Effekt scheitern. Denn wenn sie nicht einmal die Kompetenz besitzen zu verstehen, dass die Regulierungen Ländersache sind und Dunja Hayali keine Demonstration auflöst, haben sie auch nicht die Kompetenz ihre Forderungen zu artikulieren. Merkel öffnet keine Grenzen, die längst offen waren. Und Merkel erklärt auch keine Landtagswahlen für ungültig.

In ihrer Kompetenzlosigkeit verstehen sie nicht einmal, welche Kompetenzen ihnen fehlen.

Plötzlich ist jeder Epidemiologe, Virologe, Klimaforscher, Migrationsanalyst, Religionswissenschaftler und Jurist. Dabei haben die meisten nicht einmal das Grundgesetz verstanden. Und einige Verstehen nicht, dass es unsere Verfassung ist.

Sie plappern im psychologischen Bestätigungsfehler das nach, was Rattenfänger ihnen aus eigennützigen Gründen vorbeten. Getrieben von ihren Ängsten, ihrer Überforderung und davon, sich plötzlich ihrer Unwichtigkeit bewusst zu werden und einen Kontrollverlust zu erleben. Der nur darin begründet ist, dass sie sich vorher eine Kontrolle eingeredet haben, die sie nie hatten.

Wir leben in keiner „Meinungsdiktatur“. Wir leben in einer Kompetenzdiktatur. Denn wir leben in einer Demokratie, in der man bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, um die Gesellschaft mitgestalten zu können.

Die Gefahr ist, dass diese Menschen aber den Weg bereiten, um eine tatsächliche Diktatur heraufzubeschwören. Denn nach 75 Jahren Frieden und Freiheiten, wie sie noch kein Volk zuvor jemals gekannt hat, haben sie offenbar völlig aus den Augen verloren, welche Freiheiten sie tatsächlich haben.

Sie demonstrieren für Freiheit und merken nicht einmal, dass sie dabei eine der größten Freiheiten bereits in Anspruch nehmen. Sie kommentieren auf Social Media über den Verlust von Meinungsfreiheit und bemerken den Widerspruch nicht einmal.

Sie glauben tatsächlich die demokratische Mehrheit seien die Diktatoren, weil sie vor lauter Freiheit vergessen haben, was Unfreiheit tatsächlich bedeutet.“

Kommentar KS:

Ein paar richtige Beobachtungen über die Motivation (Überforderung durch Komplexität) vieler Demo-Teilnehmer, basierend auf dem falschen Loblied der Demokratie, das die Ideologieabteilung des modernen Kapitalismus singt und die Leute singen lehrt:

Die Schreiberin erklärt dem undankbaren Volk, dass es „Freiheiten in Anspruch nimmt“, und dann auch noch solche, „wie sie kein Volk zuvor jemals gekannt hat“.

Mit diesem ultimativen Superlativ will sie „die Demokratie“, also den Staat, loben, der diese Freiheiten – sonst könnte man sie nicht in Anspruch nehmen – GEWÄHRT, also auch bei Bedarf zurücknehmen kann.

Dass also die gepriesenen Freiheiten ein staatlicher Hoheits- (und damit Gewalt-)Akt sind, entgeht der Demokratiefreundin glatt, so klasse findet sie das freie Dürfen und Meinen im demokratischen Kapitalismus.

Weiter erklärt sie den unverständigen Demonstranten, dass man „bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, um in einer Demokratie mitgestalten zu können“.

WELCHE Voraussetzungen das sind, läßt sie offen bzw. setzt voraus, dass diese ohnehin jedem klar sind, nämlich das MITMACHEN beim Einsatz für ganz freiheitlich-demokratisches Wachstum.

Wiederum bemerkt die demokratische Volkserzieherin an dieser Stelle nicht, dass und welche „Voraussetzungen“ gesetzt, aufgestellt und per hoheitlicher Gewalt für alle gültig gemacht werden müssen.

Damit ist sie erneut beim STAAT gelandet, der erst den Rahmen SETZT, in dem die unterschiedlichen (und sehr gegensätzlichen) Interessen seiner Gesellschaft sich ganz freiheitlich gegeneinander betätigen dürfen.

Ein staatlich gesetztes DÜRFEN schon für Freiheit zu halten, weil Demokratie als perfekte Form bürgerlicher HERRSCHAFT nun mal die effektivste Methode ist, den kapitalistischen Laden zu managen- das ist das intellektuelle Kunststück der unbekannten Autorin, die Siebert hier so zustimmend zitiert.

Weder Siebert noch die Autorin und schon gleich nicht die von ihnen kritisierten und demokratisch belehrten Freiheitsdemonstranten (wollen) begreifen, dass sie sich von zwei Seiten an DEMSELBEN Macht- und Gewaltverhältnisse abarbeiten:

Nämlich dem unverrückbar gesetzten Umstand, dass FREIHEIT in einem kapitalistisch verfassten Staat zuerst und zuvorderst die Freiheit des Privateigentums ist, als KAPITAL wirksam zu werden und sich durch die Benutzung der FREIEN Lohnarbeiter zu vermehren.

DIESE schöne Freiheit kommt nicht von allein, sondern wird mit ganz viel staatlicher Gewalt eingerichtet und verteidigt.

Während nun Siebert, die unbekannte Autorin des Beitrags und eine Mehrheit von Bevölkerung und Medien der Ansicht sind, das doch freiheitsmäßig alles bestens geregelt ist und man die pandemiebedingte Krise schon irgendwie, jedenfalls aber freiheitlich-demokratisch, zu bewältigen hat, sehen die GEGNER der staatlichen Corona-Politik und die „Tag der Freiheit“-Demonstranten umgekehrt in den Regierungsmaßnahmen lauter VERSTÖSSE gegen genau dieselbe Freiheit.

Beide Seiten beziehen sich auf dasselbe falsche Verständnis der Verhältnisse; jede will „die Freiheit“ und die „Demokratie“ gegen die jeweils andere Seite verteidigen.

Keine versteht, dass Demokratie eine Form der HERRSCHAFT ist; erst recht versteht keiner der Kontrahenten, welche INTERESSEN diese Herrschaft ins Recht setzt, als conditio sind qua non der gesellschaftlichen Reproduktion etabliert und sie als Überlebensmittel aller Freiheits-Insassen zum Sachzwang macht.